Kirche muss sich positionieren
Die Kirchen sind gewichtiger Akteur in der Flüchtlingsfrage. Das ist unbestritten. 120.000 Freiwillige arbeiten innerhalb der evangelischen Kirchen in diesem Bereich, zahlreiche hauptamtliche Mitarbeiter der Kirchen und Diakonischen Werke kümmern sich um die Belange der Flüchtlinge, 85 Millionen Euro wurden als Sondermittel von den Landeskirchen extra für Flüchtlingsarbeit bewilligt. Die Statements der Kirchenführungen versinken aber dennoch im Mainstream der veröffentlichten Meinung. Warum?
Das hat inhaltliche und handwerkliche Gründe. Wenn die Spitzen der Kirche und die Spitzen der Politik mehr oder weniger das Gleiche sagen, taugen die Kirchenverlautbarungen nur für die Löschtaste, und es gibt auch keinen überzeugenden Grund für Fernsehanstalten, Kirchenleuten einen Platz in den vielen Talkshows zum Themenfeld anzubieten.
Eine bemerkenswerte Ausnahme bildete Heinrich Bedford-Strohms Auftritt bei Anne Will am 24. Januar. Da punktete der EKD-Ratsvorsitzende. Er leitete seine verständlich, gelassen aber temperamentvoll vorgetragenen Positionen aus kirchlichen Bezügen ab und suchte nicht die Zustimmung einzelner Politiker. Das war überzeugend. Jetzt muss nachgesetzt werde. Wichtig sind eigene Themen. Denn wer bei den entscheidenden nationalen Debatten nicht vorkommt, verliert seine gesellschaftliche Anschlussfähigkeit und büßt weiter an Relevanz und Reputation ein. In diesem Kontext nutzen dann alle Aktivitäten vor Ort herzlich wenig.
Man kann sich nicht positionieren ohne die Bereitschaft zur Polarisierung. Mit glattgebügelten Gruppenstatements wie dem gemeinsamen Aufruf der evangelischen Bischöfe zur Flüchtlingsfrage kann man sich vielleicht intern am Zustandekommen erfreuen. Außerhalb der Kirchen ist die Neigung jedoch nicht ausgeprägt, aus im politischen Mainstream abgefassten Texten Kleinstbestandteile von Eigenständigkeit zu klauben.
Was aber wäre unterscheidbar und dabei dem Selbstverständnis entsprechend? Es wäre zum Beispiel relevant, wenn Kirchenvertreter, Substantielles zur Frage lieferten, wo in den Herkunftsländern der Flüchtlinge Christen, Jesiden, Juden und andere Glaubensgruppierungen noch sicher sind und was getan werden muss, um deren Überleben zu gewährleisten. Gleiches gilt für die Lage der Flüchtlinge in den Anrainerstaaten. Wo ist der „Flüchtlingsbischof“, der hierüber kompetent und erzählstark Auskunft gibt? Wo sind die Rechercheergebnisse über die Situation in den hiesigen Flüchtlingslagern? Wo sind die Zusagen an Minderheiten, dass sie sich im Fall der Kujonierung auf die unbedingte Solidarität der hiesigen Kirche verlassen könnten, die den Konflikt mit muslimischen Fundamentalisten nicht scheut? Könnte Kirchenasyl in diesem Zusammenhang nicht eine neue Bedeutung bekommen? Würde Kirche sich unter anderem von diesen Fragen leiten lassen, könnte sie auch als einer der führenden Akteure bei der Flüchtlingsintegration wahrgenommen werden.
Notwendig sind aber die Bereitstellung von zeitlichen Ressourcen und klare Rollenzuschreibungen. 2016 muss ein schlagkräftiges Team gebildet werden, quer durch alle Organisationen unter dem Kreuz, eine „Stabsstelle Integration“. Hier sollten alle Informationen zusammenlaufen, Planziele formuliert und deren Durchführung überwacht sowie die Öffentlichkeitsarbeit gesteuert werden. Vorbild sind die Wahlkampfkommissionen der Parteien und die Stabsstellen zur Flüchtlingsersthilfe auf allen Ebenen des Staates. Der EKD-Ratsvorsitzende braucht das Mandat, für alle evangelischen Organisationen zu sprechen, und sein Stab braucht die Zuarbeit aus allen diesen Organisationen. Noch besser wäre das Doppelmandat: Heinrich Bedford-Strohm und Kardinal Reinhard Marx sprechen für das deutsche Christentum.
Jetzt ist die Chance des Momentums da. Jetzt sollten gesellschaftliche Anforderungen vor internen Traditionsfortschreibungen, die zutreffend als „Eitelkeit der Bescheidenheit“ zu beschreiben sind, und Machteifersüchteleien rangieren. Das Thema Integration ist für die Kirche, so gesehen, eine erneute Jahrhundertchance zur Selbsterneuerung. Die letzte war die Rolle der Kirche in der DDR des Übergangs, als gerade die protestantische Kirche im direkten und im übertragenen Sinne für die Zivilgesellschaft raumgebend war. Warum soll sie dies nicht wieder sein, jetzt in ganz Deutschland?
Henning von Vieregge