Indiskretion des Naseputzens
Der Mensch ist, was er isst, sagt Anselm Feuerbach. Bleibt anzufügen, dass, wie er isst, zeigt, wer er ist. Als es um Hunger ging, und das biblische Manna vom Himmel regnete, scherte man sich nicht um Manieren, sondern las es auf und hatte das erste Fastfood. In der Bibel wird fortan geschlemmt und geschmaust nach orientalischer Art: mit den Händen, im Liegen oder um ein Feuer hockend. Tausend Jahre später tafeln die Griechen und Römer immer noch liegend, jedoch in eleganten Speisezimmern, von Tellern und Platten aus Silber und Gold, und sie trinken aus dem seltenen Glas.
In unseren Gefilden begnügt man sich lange Zeit mit einem Holzbecher und Messer, beides gern am Hosenbund getragen. Bevor der Löffel dazu kommt, tunkt man die Soße mit Brot auf. Im Mittelalter ändert sich das, zuerst bemühen sich vor allem die Klöster um Tischmanieren. Das gemeinsame Mahl unterliegt strenger Disziplin. Lärm und Streit sind verboten, es gilt das Gebot der Mäßigkeit, man sitzt aufrecht. Von den mönchischen Tafeln übernehmen dann König und Adel die gesitteten Bräuche. "Ich könnte ohne Tischtuch essen, aber ohne Serviette, nach deutscher Sitte, äußerst ungern", so Michel de Montaigne im 16. Jahrhundert. Die Regel: "Am Tischtuch soll sich niemand wischen” gibt es zu seiner Zeit in Deutschland noch nicht.
Als Hans Sachs wenig später seine "Tischzucht" schreibt, haben Nase, Mund und Hände an Tischdecken nichts mehr zu suchen. Sein Katalog reicht vom Händewaschen vor der Mahlzeit bis zum Tischgebet. Das Essen mit den Händen gilt fortan als unfein, auch um manierliche Ruhe wird gebeten, Rülpsen und Schmatzen sind tabu. Worauf man übrigens in China bis heute keinen Wert legt, das Essen wird ungeniert von Geräuschen begleitet. Allerdings gelten feine Regeln für den Umgang mit Stäbchen: diese niemals in den Reis stecken.
Als Sancho Pansa von seinem Herrn Don Quijote eingeladen wird, neben ihm Platz zu nehmen, lehnt der selbstbewusst ab: "Ich muss sagen, gnädiger Herr, dass, wenn ich etwas Gutes zu essen habe, es mir im Stehen weit besser schmeckt, als wenn ich einem Kaiser zur Seite gesetzt würde. Es schmecken mir Brot und Zwiebeln in meinem Winkel besser, wenn ich ohne Umstände und Komplimente essen darf.” Das Volk hält sich nicht gern an Regeln, während das reiche Bürgertum die Sitten des Adels kopiert. Wobei im Wesentlichen die Habsburger und Bourbonen die Tischkultur prägen. Da gibt es hohe Etageren, Kronleuchter, ganze Schwäne inklusive Federn, die nicht unbedingt verzehrt werden. Denn oft ist die Pracht bloßer Schein, die Gerichte sind lange vorher zubereitet und bis sie verziert auf den Tisch kommen, schon verdorben.
Seit rund 150 Jahren benutzen die meisten Europäer Essbestecke, erfinden für jedes Gericht das passende Geschirr und decken Mittags-, Kaffee- und sonstige Tafeln ein, während man in vielen Teilen der Welt weiter gemeinsam von großen Platten mit den Fingern isst. Inder, Mongolen und Araber rollen das Essen in Teigwaren oder Kuskus, Asiaten in Reis, Naturvölker, wie die Indianer, in Blätter. Was hier als fein gilt, erscheint vielen manieriert, was in den Alltag der einen gehört, dünkt andere in höchstem Masse unhygienisch. Sich in Südamerika während einer Mahlzeit die Nase zu putzen und sei es noch so diskret, ist eine grobe Ungehörigkeit. Dafür aber selbstverständlich, das Messer beiseite zu legen und mit der Gabel zu gestikulieren. Die Nordamerikaner legen die linke Hand beim Essen in den Schoss, während wir um Haltung, beide Hände an der Tischkante, bemüht sind.
Doch weichen Grenzen und Sitten weltweit auf. One-World, Fast- und Fingerfood schaffen eine neue Kultur des Essens und Trinkens: im Gehen, im Stehen, mit den Händen, aus Plastik oder Pappe, es wird telefoniert, gestikuliert. Manieren perdu?
Angelika Hornig