Trügerischer Aufbruch
"Jedenfalls ist 1913 ziemlich harmlos verlaufen, nicht tot und schläfrig, ziemlich viel inneres Leben", schreibt Käthe Kollwitz im Dezember des Jahres in ihr Tagebuch. Es ist das lakonische Resümee eines Jahres voller vibrierender Gegensätzlichkeiten, voller überbordender Kreativität und des Aufeinanderprallens zweier Epochen. Die Balkankrise und der heraufziehende Erste Weltkrieg prägen kaum das Lebensgefühl dieser Zeit, so scheint es. Im Gegenteil: Der Zerfall äußerer Gewissheiten und die Entdeckung der Innerlichkeit setzen visionäre Energien frei. Vieles scheint möglich in dieser Zeit, es ist - erstaunlich genug - eine Epoche des Aufbruchs. In seiner literarischen Collage "1913 - Der Sommer des Jahrhunderts" hat Florian Illies jüngst die Stimmungen dieses Jahres skizziert. Davon inspiriert widmet das Franz-Marc-Museum in Kochel diesem Schlüsseljahr bis 19. Januar eine Ausstellung.
Fast zeitgleich vollzog sich Anfang des 20. Jahrhunderts in vielen Bereichen des Forschens und Denkens ein radikaler Bruch. Albert Einstein hatte in der Physik mit der Formulierung der Relativitätstheorie die Absolutheit von Raum und Zeit zerschlagen. Mit der gerade entstehenden Quantenphysik wurde auch der atomare Mikrokosmos, das Innerste der Materie zu einem Bereich relativer Zustände. Es ist die Zeit, in der die Psychologie ihre zentralen Erkenntnisse formuliert: Sigmund Freud deckt den Zusammenhang von Unterbewusstsein und Verhalten auf, sein Schüler und späterer Gegner Carl Gustav Jung entschlüsselt dies gar aus den Traumbildern und Archetypen der Seele. Das Äußere wird fragwürdig, je tiefer der Blick in das Innere geht. Das Gegenständliche verliert seine Eindeutigkeit, wird zur fragilen Hülle des Eigentlichen, je mehr das Innere und Geistige entschlüsselt wird. Wie ein Anachronismus aber steht über allem die statische Absolutheit der kaiserlichen Herrschaft, der Pomp der preußischen Monarchie, das stuckschwere Gehabe unfehlbarer Macht.
Es war eine Epoche voller Möglichkeiten, so empfanden es viele Künstler und Literaten. Es war eine Zeit, in der es möglich schien, Utopien zu leben, und die Kunst war dafür ein Seismograph. Die ganze Tektonik dieser Epoche spiegelte sich in der Kunst. Maler wie Lovis Corinth hielten einerseits an der romantischen Idee fest, das Äußere berge in sich das Schöne und sei Spiegel innerer Regungen. Zeitgleich formierte sich aber auch eine radikale Avantgarde, die die bisherige Gegenständlichkeit künstlerischer Darstellung radikal zerschlägt. Marcel Duchamp fragt, wie er ein Kunst-werk schaffen könne ohne Kunst und montiert eine Fahrradgabel samt Rad auf einen Küchenhocker - wo es völlig zweckfrei vor sich hin dreht. Kasimir Malewitsch zeigt in Russland sein "Schwarzes Quadrat auf weißem Grund". Dies sind - nach Florian Illies - die beiden "Nullpunkte" der modernen Kunst.
Es ist der Reiz der Ausstellung im Franz-Marc-Museum, dass sie die Kunst zwischen diesen beiden Polen zum Thema macht. Und es ist die frappierende Erkenntnis dabei, dass die Erwartungshaltung des heutigen Betrachters erst einmal ins Leere läuft. Musste sich denn wenige Monate vor dem Beginn des Krieges nicht alles um die drohende Katastrophe drehen? War die im Nachhinein rekonstruierte historische Kausalität der Ereignisse nicht doch auch vorher erkennbar, wurde sie nicht gesehen, erspürt, geahnt? Jedenfalls nicht so, dass sie das alles dominierende Thema war. Und nicht so, dass sie den heutigen Betrachter erleichtern könnte: Was heute rückschauend geschichtlich als Weg in die Krise verstanden wird, war - zumindest in der Kunst - nicht das bestimmende Thema. Die Künstler begriffen den Zerfall äußerer Gewissheiten in all seiner Ambivalenz mehrheitlich als utopische Chance, nur vereinzelt auch als destruktive Gefahr. So sind ihre Werke meist Bilder vor, aber selten von der Apokalypse.
Franz Marc, der in der Ausstellung des Museums naturgemäß eine große Bedeutung hat, steht exemplarisch für diese künstlerische Sicht der Zeit. Der Münchner Maler hatte sich mit seinen Malerfreunden in das bayerische Voralpenland zurückgezogen, Murnau und Sindelsdorf waren zu Refugien der Zivilisationskritik des Blauen Reiter geworden.
Dabei ging es dem Malerkreis um Franz Marc und Gabriele Münter weniger um die Auseinandersetzung mit der Politik des deutschen Kaiserreichs. Sie waren vielmehrgetrieben von der Sehnsucht nach dem natürlichen Ausdruck des Inneren und Geistigen, sie wollten zurück zu dem, was sie als die eigentliche, die geistige Bestimmung des Menschen sahen - und wollten dies auch mit ihrem naturverbundenen Lebensstil ausdrücken.
In gewissem Sinne blieb die Gruppe des Blauen Reiter der Gefühlswelt der Romantik verhaftet, stellte sich aber zunehmend expressionistisch der Destruktion der Formen, der Abstraktion des Offensichtlichen. Marcs Bild "Gazellen" ist hierzu eines der wichtigsten und schönsten Bilder der Ausstellung. Die Anmut der Gazelle greift über ihre Formen, die Hörner, die Beine und die Rückenlinie in den gesamten Raum, gibt ihm Rhythmus, Schönheit und Farbe. Gleichzeitig strahlt die Komposition auch eine expressive Unruhe aus, die ihren Ausdruck findet in einer schroffen Diagonale, die wie ein gefällter Baum den Raum durchteilt.
Andere Maler der Zeit suchten andere Ausdrucksstile für das gleiche Thema. Oskar Kokoschka, in jenem Jahr getrieben vom Großstadtleben Berlins und der fiebrigen Sehnsucht nach Alma Mahler, malt die Berge in blassen Farben, zugleich schroff und unwirtlich, nicht als Orte innerer Sehnsucht, sondern als Panorama der Unruhe ("Alpenlandschaft bei Mürren"). Wolken und Sonne verwirbeln sich über der Szenerie, als öffne sich der Himmel für die endzeitlichen Posaunen.
August Macke findet seine Inspiration beim herbstlichen Flanieren am Thunersee und porträtiert Menschen vor Schaufenstern und Hutläden. Spiegelnde Scheiben werden ihm zum Medium der Reflexion - im mehrfachen Sinn -, in dem Menschen ohne Gesichter einem vielschichtigen Abglanz der Wirklichkeit gegenüberstehen. Else Lasker-Schüler zelebriert die Kunst der Verkleidung als Bild für die Austauschbarkeit der äußeren Existenz und nennt ihr Selbstporträt "Jussuf Prince Tilva".
War diese Kunst existenziell und politisch? Oder nicht doch weltfremd und selbstverliebt? Es ist wieder der Blick zurück aus der Gegenwart, der um die weitere Geschichte wissende Blick, der hier sein Urteil womöglich zu schnell trifft. Cathrin Klingsöhr-Leroy, die Direktorin des Franz-Marc-Museums, betont im Gespräch, die Zeit um 1913 sei als erneuerungswillige Epoche empfunden und gelebt worden. Die Ausstellung solle die These widerlegen, man habe den Krieg schon klar voraussehen können. Bestimmend sei das Gefühl gewesen, den Umbruch in die Moderne zu erleben und Utopien verwirklichen zu können. Mit dem Krieg sei dieser Aufbruch zerstört worden. Auch ein Blick in die kirchliche Zeitgeschichte bestätigt diese Einschätzung. In der Hochstimmung weltweiter Missionserfolge hatten sich 1910 hunderte Delegierte zur ersten kirchlichen Großversammlung der Neuzeit zusammengefunden, der Weltmissionskonferenz von Edinburgh. Das Bewusstsein, an einer epochalen Wende zu stehen, prägte auch die Debatten der Konferenz. Die Christianisierung der Welt, vor allem durch die Mission der südlichen Kolonien, schien nie so greifbar wie jetzt.
In der Schlusserklärung von Edinburgh leuchtet dieses epochale Bewusstsein auf, gleichzeitig wird aber auch hier schon die Ahnung des Ambivalenten dieser Zeit formuliert: "Wir haben von vielen Seiten gehört, daß große Nationen erwachen, sich lang geschlossene Türen öffnen und daß mit aller Plötzlichkeit Bewegungen eine neue Welt der Kirche gegenüberstellen, die sie für Christus gewinnen muß. Die nächsten zehn Jahre werden aller Wahrscheinlichkeit nach einen Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit bringen. Sie können einschneidender in der Entwicklung des Selbstverständnisses der Menschen sein als viele Jahrhunderte gewöhnlichen Zeitlaufs. Falls diese Jahre ungenützt verstreichen, kann eine Verwüstung angerichtet werden, die Jahrhunderte nicht wieder gutzumachen vermögen. Sollten sie dagegen richtig genutzt werden, so können sie zu den größten Jahren in der Geschichte des Christentums gehören."
Tatsächlich greifen auch in der Kunst existentielle Abstraktion, das Gefühl des Epochenwechsels und düstere Vorahnungen ineinander, die Ambivalenz der Zeit wird auch in der Ausstellung sichtbar. Erich Heckels "Kinderspielplatz" ist ein beklemmendes Stimmungsbild. Der Spielplatz, eigentlich ein Ort kindlicher Unbekümmertheit und Lebenslust, wird hoch eingezäunt mitten zwischen dunklen Bäumen zu einem beklemmenden Raum. Gesichtslose Kinder und Mütter, eine davon in züchtigender Haltung, verstärken das abweisende Gefühl der Beziehungslosigkeit und Enge.
Auch Franz Marcs Bilder bekamen - je näher der Krieg kam - einen deprimierenden Unterton und griffen immer wieder Motive auf, die Leiden und Tod thematisierten. Er malt ein getötetes Reh, blutrot und zusammengekauert. Ungewöhnlich explizit ist die politische Aussage seines Bildes "Das arme Land Tirol", einer grauen Tristesse, in der allein ein Tupfer Himmelblau und Sonnengelb die Landschaft aufhellen - und ein aufrechter Vogel wie ein Reichsadler die Szene dominiert.
Franz Marc zog euphorisch in den Krieg. Für ihn war der Krieg das reinigende Gewitter, aus dem ein neues geistiges Europa erstehen würde. Mit den vielen Toten, die er sah, klang seine Begeisterung bald ab. Auf seine Feldpostkarten malte er immer wieder seine geliebten Pferde, sie wurden ihm mehr und mehr zu Hoffnungsbildern, an die er sich klammerte. Am Morgen des 4. März 1916 wurde er bei einem Erkundungsritt in der Nähe von Verdun durch eine Granate tödlich verletzt.
Informationen:
Ausstellung "1913 - Bilder vor der Apokalypse", bis 19. Januar, Dienstag-Sonntag, 10-17 Uhr, Franz-Marc-Museum, Kochel am See
Thomas Prieto Peral
Thomas Prieto Peral
Thomas Prieto Peral ist Kirchenrat und Referent für theologische Planungsfragen im Bischofsbüro der Evang.-Luth. Kirche in Bayern.