Alte Lehre in alten Worten? Uninteressant für heutige Menschen? Derartige Fragen werden sich in den nächsten Jahren immer wieder stellen, wenn im Zuge der Vorbereitung des Reformationsjubiläums 2017 an die reformatorische Rechtfertigungslehre erinnert wird. Zu ihrem Kernbestand gehört Martin Luthers These vom unfreien Willen (servum arbitrium), die Luther im Anschluss an Augustinus entfaltet hat. Sie ist Gegenstück zu der Einsicht, dass der Mensch nicht durch sein eigenes Tun, durch Selbstrechtfertigung, sondern allein durch die Gnade Gottes (sola gratia) vor Gott gerechtfertigt, das heißt, von Gott angenommen wird. Weil alles an Gottes Gnade liegt, darf nichts am Menschen liegen. Der Mensch ist am Angenommenwerden durch Gott nur dadurch beteiligt, dass er es - nichts anderes heißt "glauben" - an sich geschehen lässt (sola fide).
Der Streit Luthers mit Erasmus von Rotterdam zum unfreien Willen des Menschen gegenüber Gott ging um die Frage, ob dieser Glaube durch eine freie Wahl charakterisiert sei. Erasmus behauptete: Ja! Der Mensch begegne der Gnade Gottes und könne sich dann dafür entscheiden, ihr zu glauben oder nicht. Er könne die Richtung seines Wollens ändern: von der selbstbezogenen Selbstrechtfertigung hin zur Gnade Gottes.
Luthers Lehre vom unfreien Willen behauptet das Gegenteil. Wenn dem Menschen die Gnade Gottes begegne, treffe der Mensch keine Entscheidung. Jede eigenständige Änderung der Willensrichtung sei selbstrechtfertigende Tat. Aus der Selbstbezogenheit breche der Mensch damit gerade nicht aus. Luther meint: Die Gnade Gottes selbst wirkt, dass der Mensch ihr glaubt. In dieser Passivität ist der Mensch frei, frei von sich selbst.
Doch deswegen ist der Mensch nicht etwa eine willenlose Marionette. Luther spricht nicht vom willenlosen Menschen, sondern vom unfreien Willen. Damit beschreibt er die Spannung im fundamentalen Sündersein: Der Mensch kann nicht anders, und er ist doch dafür verantwortlich. Zwar kann der Mensch ohne das Angenommenwerden durch Gott, ohne das Überwundenwerden durch die Gnade nicht anders, als sich auf sich selbst richten. Aber er will es eben auch. Das bedeutet: Die Schuld des Menschen liegt nicht darin, dass der Mensch die Ausrichtung seines Willens nicht ändern kann. Sie liegt darin, dass er selbstbezogen sein will.
Und heute? Steht die Vorstellung von einem unfreien Willen nicht im Widerspruch zum Selbstverständnis des modernen Menschen, dass seine religiöse Freiheit darin bestehe, sich letztlich selbst für eine bestimmte Religion entscheiden zu können? Das steht sie in der Tat. Sie hält ein solches Konzept für eine Illusion. Denn der Mensch kann sich nicht aus neutraler Distanz für einen Glauben entscheiden. Er will in einer bestimmten Religion leben, weil er ihr begegnet und von ihr angezogen ist, das heißt, in seinem Willen von ihr bewegt und begeistert worden ist. Er erlebt sich als durch diesen Gott überwunden und überwältigt. Deshalb glaubt er. Er kann nicht anders. Darin ist sein Wille unfrei. Getragen von der Gnade Gottes ist er aber gerade so frei.
Christiane Tietz ist Theologieprofessorin in Mainz und Mitherausgeberin von zeitzeichen.
Christiane Tietz
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Christiane Tietz ist Professorin für Systematische Theologie in Zürich und Herausgeberin von zeitzeichen.