Elegische Entrückung
Manches Konzert gibt es nur einmal. Eine Binsenweisheit? Natürlich. Denn Musik ist Zeitkunst und genau jenen Moment, der gewesen ist, den fängt man nie wieder ein, jedenfalls nicht, solange nicht wirklichkeitsprägende Konzepte von unserer Welt Besitz ergreifen, wie sie in „Zurück in die Zukunft I-III“ zu bestaunen sind: In der genial-bescheuerten Steven-Spielberg-Filmtrilogie aus den Achtzigern reist der junge Michael J. Fox in die Vergangenheit und beeinflusst die Zukunft, um dann wieder in die Zukunft zu reisen, um die beeinflusste Vergangenheit nun wieder einzufangen. O m(ein)G(ott)…
Aber im Ernst: Manche Konzerte gibt es wirklich nur einmal, zum Beispiel das letzte Schulkonzert des eigenen Kindes. Zwar könnte auch dieses Konzert mit genau demselben Programm beliebig oft wiederholt werden, doch darum geht nicht. Dieses letzte Konzert ist für hörende Väter, Mütter und Verwandte aufgeladen mit emotionalen Subtexten, die diesen Moment schwer, aber auch besonders kostbar machen - und manchmal merken sie das erst kurz vor dem ersten Ton.
Da kommen mir fast die Tränen, weil eine sehr gute Freundin meiner Tochter, die man seit Grundschultagen aufwachsen sah, mit Bravour das Solo in Haydns berühmten Trompetenkonzert Es-Dur spielt, erfreue mich an dem wunderbaren Ton, der tiefen Musikalität (und natürlich auch dem tollen Kleid). Und mich durchströmt Freude und Dankbarkeit, wenn ich daran denke, dass sie und auch meine Tochter in unserem so oft gescholtenen Schulsystem einfach die Möglichkeit hatten, sich in der dritten Klasse ein Instrument auszusuchen und dann eine ganze Zeit lang umsonst Einzelunterricht an der städtischen Musikschule genießen durften.
Danach waren sie angefixt und die Ergebnisse nach zehn Jahren sind klasse - okay, die paar verrutschten Spitzentöne, die lagen am neuen Instrument, das wird auf jeden Fall bis zur Aufnahmeprüfung! Oder der vormals kleine Junge, der sich im Laufe der Zeiten zu einem wunderbaren Gentleman am Cello entwickelt hat und - gewandet mit Fliege und gut sitzendem Anzug - in Faurés hinreißender „Élégie“ Opus 24 warme, tiefe Töne erschafft, die die Konzertgemeinde dahinschmelzen lässt. Grandios.
Und dann steht auch noch das Adagietto aus Mahlers Fünfter auf dem Programm! Herrje, mühsam verdrängt der Zuhörer das Kopfkino des sterbenden Gustav von Aschenbach aus Viscontis Thomas-Mann-Verfilmung „Der Tod in Venedig“, doch schon lauern andere Tränen: Unser Kind! Da sitzt es ganz gemütlich in der letzten Reihe in den Tuttitrompeten und macht sich dort einen lauen Lenz. Ja gut, der Ansatz hat durch kontinuierliches Nichtüben gelitten, aber natürlich null Vorwurf: Der Fokus lag halt auf Gesang in den vergangenen Jahren. Aber was ist es groß geworden, das Kind! Bald wird es uns verlassen, fremd in die Fremde ziehen. Hoffentlich findet es dort nicht Tod, Teufel, Pest, Verderben …
Mein Gott, Papa, reiß Dich zusammen! Wie wunderbar ist doch, dass mir die Musik so wichtig geworden ist, dass sie zu einem Ausdruck meiner Seele geworden ist, zu einer holden Kunst, die viele grauen Stunden erst gar nicht entstehen ließ, weil mein Herz zu dieser Kunst entbrannt ist, deren heilige Akkorde auch in Zukunft bessere Zeiten erschließen sollten, werden, mögen …? Ach Kind, ach wer weiß …
Da! Kurz bevor die Tränen fließen, erklingt keck, verschmitzt, angriffslustig und zukunftweisend Ravels genialer Boléro. Er reißt mich aus sentimental-trüben Angstträumen, Halleluja! Die präzise Rhythmisierung mutiert zum Fort-Schritt im Wortsinne: weiter, immer weiter, ein Weg ins Licht, verweile, Herz, nicht im trüben Augenblick. Oh, welch süßer heiliger Akkord, der den Himmel künft’ger Zeiten mir erschließt. Alles wird gut. Alles ist gut. Du holde Kunst, du holdes Kind, ich danke Dir dafür!
Reinhard Mawick