Min Modersprak

Vor 200 Jahren belebte der Lyriker Klaus Groth das Plattdeutsche als Literatursprache
Das Klaus-Groth-Denkmal in Kiel.
Das Klaus-Groth-Denkmal in Kiel.
Seine Gedichte haben dazu beigetragen, das Plattdeutsche wieder literaturfähig zu machen und sogar das Buch der Bücher wieder „op platt“ in Gebrauch zu nehmen. Der Dichter Klaus Groth wurde vor 200 Jahren in Heide geboren. Seine Meister-werke sind alle auf platt geschrieben. Der Journalist Uwe Michelsen stellt einen Mann vor, der eine Philippika gegen die Verdrängung des Plattdeutschen in der kirchlichen Praxis hielt.

Manchen Leuten erscheint die plattdeutsche Sprache grob und sie mögen sie nicht. Ich habe diese Sprache immer geliebt; mein Vater sprach sie wie Hochdeutsch, sie, die vollkommenere der beiden Schwestern, wie Klaus Groth sie genannt hat. Es ist die Sprache des Meeres.

„Das Plattdeutsche kann alles sein: zart und grob, humorvoll und herzlich, klar und nüchtern und vor allem, wenn man will, herrlich besoffen“, formuliert Kurt Tucholsky (1890-1935) in seinem Roman Schloss Gripsholm.

Wenn es um das Lob des Plattdeutschen geht, jener immer wieder totgesagten Sprache der Norddeutschen, keine Angst vor Biedermeierverdacht oder Heimattümelei. Kurt Tucholsky ist gewiss völlig unverdächtig, einer nationalkonservativen Rückwärtsgewandtheit verfallen zu sein. Er liebte am Plattdeutschen den „gutmütigen Spott und den zupackenden Spaß, wenn sie (Die Norddeutschen) falschen Glanz wittern“. Als literarisch bewährten und germanistisch gebildeten Kronzeugen für diese Liebe nennt er Klaus Groth (1819-1899). Doch: Wer ist das?

Die Norddeutschen kennen ihn. Die Schleswig-Holsteiner verehren ihn - neben seinem Freund Theodor Storm - als ihren größten Heimatdichter. Aber weiter südlich dürfte es mit seiner Bekanntheit spürbar schlechter aussehen. Das liegt daran, dass Groths Meisterwerke alle auf platt geschrieben sind. Und das versteht man nun einmal schlecht oder gar nicht südlich Niedersachsens. Als Groth vor gut zweihundert Jahren am 24. April 1819 in der kleinen Stadt Heide im holsteinischen Dithmarschen geboren wird, ist es dem Müllersohn gewiss nicht in die Wiege gelegt, später einmal Professor für Germanistik und hochgeehrter Dichter zu werden. Dithmarschen - im Südwesten Holsteins an die Nordsee grenzend - ist ursprünglich eine freie Bauernrepublik, deren Einwohner sich seit jeher gegen jedweden Adel - seien es Könige, Herzöge oder Grafen - in ihrer politischen Eigenständigkeit zu wehren wussten. Der Stolz eines freien Bauernsohnes färbte auch auf den eher kleinbürgerlichen Groth ab, wobei er diese Charaktereigenschaft eher als Last denn als Tugend empfand: „Weer ok min Hart as Stahl un Steen, Du drievst den Stolt herut“ (Wäre auch mein Herz wie Stahl und Stein, du triebst den Stolz heraus.).

Klaus Groth ist schon als Kind hochbegabter Selfmademan. Bereits vor der Einschulung kann er lesen, schreiben und rechnen. Der Junge liest und liest und liest: Alles, was ihm in die Finger kommt. Bei aller Heimatliebe spürt er: Ich will hier weg. Nur nicht Müller oder Bauer werden. Stattdessen wird er (mit 14 Jahren) Schreiber beim Kirchspielvogt und nach „rühmlicher Auszeichnung“ Lehrer an einer Mädchenschule in seiner Heimatstadt. Doch er will mehr. Der Beruf eines Kleinstadtlehrers erfüllt ihn nicht und macht ihn krank. Eine frühe Midlifecrisis lähmt seine Aktivitäten völlig. Er wird depressiv. Nach einem körperlichen und seelischen Zusammenbruch 1847 nimmt ihn zum Glück ein Freund auf. Der bietet ihm freies Wohnen auf der Insel Fehmarn an. Man hofft auf Genesung. Die tritt ein - nach sechs Jahren.

Inzwischen hat Groth sein ihn quasi unsterblich machendes Buch Quickborn geschrieben. Darin enthalten sind Ikonen der plattdeutschen Lyrik wie „Min Jehann“ (Ik wull, wi weern noch kleen, Jehann, do weer de Welt so groot) oder „Lütt Matten, de Haas“. Oft sind es sehnsuchtsvolle Kindheitserinnerungen, die den Inhalt bestimmen. Immer aber spielt das besondere Lokalkolorit seiner holsteinischen Heimat eine Rolle. Und nun beweist Groth, dass man seine plattdeutsche Muttersprache („Min Modersprak, wa klingst du schön!“) durchaus als Literatursprache verwenden kann. Das war seit zwei Jahrhunderten völlig unmöglich.

Das Niederdeutsche war - nicht zuletzt wegen des allgemeinen Vordringens des Hochdeutschen nach dem Siegeszug der Reformation und dem Niedergang der Hanse - als Schrift- und Kultursprache fast vollständig verdrängt worden. Auch wenn das „Volk“ weiterhin platt sprach, waren die Amts- und Kirchensprache jetzt zwischen Flensburg und Soltau, Memel und Husum hochdeutsch. Platt als lebendige Muttersprache blieb den Bauern und einfachen Leuten vorbehalten. Und zwar über Jahrhunderte.

Eine Sprache lässt sich eben nicht so einfach ausrotten - auch nicht per königlichem Erlass oder kirchlicher Verordnung. Gerade das aber wurde tatsächlich in ganz Norddeutschland immer wieder versucht; denn überall im Gebrauch befindliche plattdeutsche Lektionare, Bibeln, Katechismen und Gesangbücher wurden seit Ende des 16. Jahrhunderts aus dem Verkehr gezogen. Es gibt genügend glaubwürdige Belege dafür, dass man es in den neoorthodoxen lutherischen Landeskirchen bewusst auf die Ausrottung der plattdeutschen Sprache abgesehen hatte.

Armer Martin Luther. Nun absolvierten seine Enkelkinder also eine Rolle rückwärts: Das neue Kirchenlatein ist die hochdeutsche Luthersprache! Aber das Volk wusste mit dieser Sprache Kanaans wenig anzufangen. Jedenfalls wurden die Herzen damit nicht erreicht. Der normale Alltag hatte mit dem, was von den Kanzeln verkündigt wurde, nichts mehr zu tun. Kirchen- und Alltagssprache waren zwei Welten: soweit voneinander entfernt wie die Sonne von der Erde. Auch dies dürfte ein entscheidender Grund für die bis heute zunehmende Entfremdung des „Volkes“ von seiner Kirche sein: die Erosion der Volkskirche konnte ihren Lauf nehmen.

Literarische Kunstwerke

Dies brachte Klaus Groth auf die Barrikade. Seit 1853 arbeitete er an der Philosophischen Fakultät Kiel als Mitarbeiter an einer plattdeutschen Grammatik und seit 1866 als Professor für deutsche Sprache und Literatur. Insofern hört man nun verstärkt auf sein Wort: nicht nur auf das des volkstümlichen Dichters, sondern auch des kenntnisreichen Sprachforschers. Als 1884 - inspiriert von den Erfolgen des Grothschen Quickborn - ein Schleswiger Pastor (Johannes Paulsen, Kropp) wieder eine plattdeutsche Bibel herausgibt, ist seine Bewunderung übergroß. Es mussten 350 Jahre vergehen, bis wieder eine niederdeutsche Bibelübersetzung auf den Markt kam. Klaus Groth ist über die Maßen erfreut und nimmt diese an Johannes Bugenhagen (1485-1558) angelehnte Übersetzung zum Anlass, eine Philippika gegen die Verdrängung des Plattdeutschen in der kirchlichen Praxis zu halten.

Der ansonsten eher mild gestimmte Lyriker nimmt diese von Paulsen stark redigierte Bibelübersetzung zum Anlass, in einem Aufsatz wortgewaltig den Hammer zu schwingen: Bei der Abschaffung der plattdeutschen Bibeln „muß man unwillkürlich an absichtliche Vernichtung, Beil und Feuer, an Zerreißen und Verbrennen, an irgendeine fanatische Vernichtungswut denken wie einst bei den Bilderstürmern, nur hier heimlich und im Verborgenen; denn Vernachlässigung reicht nicht aus, dazu ist die Zeit zu kurz, wo sie noch zu tausenden vorhanden waren“.

Man spürt hier nicht nur Zorn gegen die Praxis seiner evangelischen Kirche, sondern auch Reformeifer. Groth ist Pädagoge. Und er hofft, durch die Wiederbelebung des Plattdeutschen, die jungen Leuten selbstbewusst wieder zu ihren eigenen Sprachwurzeln zu führen. „Die Kirche ist doch wahrlich nicht dazu da, um hochdeutschen Sprachunterricht zu geben, sondern durch verständliche Rede zu erbauen; fürs erstere mag die Schule sorgen.“ Darum also plädiert Groth für eine kirchliche Rede im natürlichen Ton - nicht künstlich verfremdet, sondern so, wie man es zu Hause spricht.

Er freut sich, dass der volksmissionarisch engagierte Johannes Paulsen sich im Vorwort seiner Bibelübersetzung auf die Inspiration durch Groth beruft. Offensichtlich tragen seine Gedichte dazu bei, das Plattdeutsche wieder literaturfähig zu machen und sogar das Buch der Bücher wieder „op platt“ in Gebrauch zu nehmen:

„Kein Buch, keine Schrift ist imstande, mehr die Würde des Plattdeutschen tatsächlich aufzuweisen, die Ehre der plattdeutschen Mundart zu retten als die plattdeutsche Bibel.“ Damit hat Johannes Paulsen der Renaissance des Niederdeutschen quasi den Ritterschlag gegeben. Der Pastor bezweckt allerdings nicht nur ein literarisch ambitioniertes Kunstwerk zu schaffen, sondern vor allem geht es ihm dabei um „Erweckung“. „Viele plattdeutsche Leute haben bloß ein hochdeutsches Christentum und halten sich den Gott, der bloß Hochdeutsch zu ihnen spricht und zu dem sie nur hochdeutsch sprechen können, soweit vom Leibe, wie das Plattdeutsche vom Hochdeutschen entfernt ist. Daher gibt es so viele Christen, die nur ein Sonntags-Christentum kennen. Gott … helfe uns, daß das Christentum den Hausrock wieder bei uns anzieht.“

Gut 135 Jahre später darf man fragen, ob der Volksmissionar Johannes Paulsen mit seinem Engagement retten konnte, was eigentlich nicht mehr zu retten war. Halten sich die Leute nicht nach wie vor Gott gern weit vom Leibe? Sind etwa die stolzen Dithmarscher und die weltoffenen Hamburger eher mit plattdeutschen Gebeten in die Kirche zu locken als mit Bachkantaten und ambitionierten hochdeutschen Predigten? Wohl kaum.

Plattdeutsche Gottesdienste bleiben ein Unikum - vorsichtig hochgerechnet machen sie weniger als ein Prozent aller Gottesdienste in den norddeutschen Landeskirchen aus. Trotz aller kirchenamtlichen Bemühungen, trotz des versuchsweisen Seminarangebotes innerhalb der praktischen Universitätstheologie, trotz plattdeutscher Kirchentage: Man mag den schönen Klang wohl hören, aber authentisch sprechen kann es kaum noch einer.

Plattdeutsche Kirchentage

Und ebenso muss die Frage erlaubt sein, ob die durch Klaus Groth angestoßene Wiederbelebung des Plattdeutschen als Literatursprache mehr als eine Zwischenepoche überdauern konnte. Forscht man heute nach dem Stellenwert zeitgenössischer niederdeutscher Literatur von Format, fällt die Bilanz mager aus. Neben dem Holsteiner Klaus Groth brachte es lediglich der Mecklenburger Fritz Reuter (1810-1874) zu höchstem Ansehen und bemerkenswerten Druckauflagen. Im 20. Jahrhundert erlebte das Plattdeutsche zwar populären Zuspruch durch vorwiegend von Laienbühnen aufgeführte Theaterstücke und die regelmäßigen im Rundfunk (NDR) ausgestrahlten Hörspiele und meist humorvollen Kurzwortbeiträge. Irgendwann aber wird ein Ende abzusehen sein.

Das Plattdeutsche als Literatursprache lebt heute weiter in einer Art Melange zwischen Hoch- und Niederdeutsch. In ihrem jüngsten Erfolgsroman Mittagsstunde (2018) lässt die von der Schleswig-Holsteinischen Westküste stammende Autorin Dörte Hansen die Dorfbewohner Brinkebülls immer wieder „platt snacken“. Entscheidende Sätze ihrer Protagonisten lauten: „De Welt geiht ünner“ oder „Hier stunn fröher noch een Möhl“. Ohne die vielen plattdeutschen O-Töne fehlte diesem Roman das besondere Aroma. Nur hier - zwischen Nord- und Ostsee - kann sich diese liebevoll erzählte und genau beobachtete Geschichte vom Niedergang eines Dorfes abspielen. Auch Groth wusste damals zu genau, dass die Zeit der Kindheit und das Idyll eines vorindustriellen Dorflebens vorbei war. Unwiderrufliche Vergangenheit.

Als Bundeskanzler a.D. Helmut Schmidt am 23. November 2015 zu Grabe getragen wurde, nahm der Volksliedsänger Jochen Wiegand auf der Empore die Gitarre in die Hand. Zurückhaltend leise und ohne jedes Pathos sang er: „Mitünner in´e Schummertied, Denn ward mi so to Mot. Denn löppt mi´t langs den Rügg so hitt As damals bi den Soot. Denn dreih ik mi so hasti um, As weer ik nich alleen: Doch allens, wat ik finn, Jehann, Dat is - ik sta un ween.“ Vielleicht war dies der ergreifendste Moment der Trauerfeier. Aber: Ob wohl viele den Text verstanden haben? Egal. Sicher spürte jeder, dass es hier um einen einzigartigen norddeutschen Sound ging. Unübersetzbar. Plattdeutsch eben. Sehnsucht nach einer verschwundenen heilen Welt.

Die Melodie dieses als „Volkslied“ angekündigten Gesangs hätte durchaus von Johannes Brahms sein können. Denn der berühmte Komponist, dessen Eltern unmittelbare Nachbarn des Grothschen Hauses in Heide waren, hatte sich mit Klaus Groth angefreundet. Bald vierzig Jahre sollte diese enge Beziehung dauern. Kein Wunder, dass Brahms regelmäßig auch Gedichte von Groth vertonte. Doch an die plattdeutschen Gedichte seines Landsmannes traute Brahms sich nicht heran. Er müsse dann so viel weinen, wird überliefert, dass er keine vernünftige Notenzeile zu Papier bringen könne. Heimweh an das Land zwischen den Meeren würde den Wahlwiener überwältigen. Deswegen bat er seinen Freund Groth immer wieder um hochdeutsche Gedichte. Die allerdings waren nur literarisches Mittelmaß. Ohne die Lieder von Brahms längst vergessen.

Aber alles halb so schlimm. Der unverwüstliche Quickborn gehört zum plattdeutschen Literaturkanon. Das wird noch lange so bleiben. Als norddeutsches Weltkulturerbe.

Uwe Michelsen

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