Gottes Sehnsucht

Klartext
Foto: privat
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Die Gedanken zu den Sonntagspredigten in den kommenden Wochen stammen von Traugott Schächtele. Er ist Prälat in Schwetzingen.

Bleibendes Rätsel

Karfreitag, 19. April

Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und setzte sie auf das Kreuz; und es war geschrieben: Jesus von Nazareth, der Juden König. Diese Aufschrift lasen viele Juden, denn die Stätte, wo Jesus gekreuzigt wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache. (Johanes 19,19–20)

Hier kommt alles zusammen, was die Weltgeschichte bewegt: Weltliche Machthaber und ihre Propaganda. Religion und einer ihrer prominentesten Protagonisten. Hoheitliche Würdigung und armseliges Scheitern. Und eine hochkomprimierte Botschaft, die nur aus vier Buchstaben besteht.

Schon als Kind war mir die Aufschrift i.n.r.i. über dem Kopf des Gekreuzigten rätselhaft, schien das Geheimnis Jesu auszudrücken und veranlasste mich nachzufragen. Und im weiteren Verlauf meines Lebens ist das nie anders geworden. Sicher, mein Fragen nach dem Grund des Karfreitags hat sich intensiviert. Aber aufgelöst in wirkliches Verstehen hat es sich bis heute nicht. Da hängt einer, den die römische Willkürjustiz in den Tod getrieben hat – und dennoch ist er ein König. Der, den die Mächtigen seiner Zeit drangegeben haben, wird zum Hoffnungsträger für viele, auch derer, die genauso Opfer sind wie er.

Heute nennen sich zweieinhalb Milliarden Menschen Christen. Dabei ist Jesus von Nazareth – von der Geburt in einer Absteige bis zum Tod auf dem Schafott der Römer – nie etwas anderes als ein Jude gewesen. Und er trägt als „Christus“ einen Titel, der nur aus jüdischer Perspektive einen Sinn ergibt. Der Angehörige der einen Religion ist zur Kristallisationsfigur einer anderen geworden.

Da ließ der Vertreter der Weltmacht über dem Delinquenten eine Botschaft mit Fake-News-Charakter anbringen. Aber gerade so hat er der Wahrheit die Bahn bereitet. Aus dem offenkundigen Scheitern ist eine Erfolgsgeschichte geworden. Der Karfreitag, dem die mittelhochdeutsch als kara bezeichnete Klage ihren Namen gibt, ist zum Guten Freitag geworden, zum Good Friday, wie man im englischen Sprachraum sagt.

Ich beneide alle, denen sich der Sinn dieses Tages so erschließt, dass er auf der Hand liegt. Ich lebe aber gut mit der Wahrheit des bleibend Rätselhaften. Und wenn mein Auge immer wieder an den vier Buchstaben i.n.r.i.hängen bleibt, bleibt die Ahnung, dass das Rätsel dieser vier Buchstaben auch etwas mit den Rätseln meines Lebens tun hat. Und mehr muss ich am Ende weder wissen noch verstehen.

Nur ein Wort

Ostersonntag, 21. April

Spricht Jesus zu ihr: Frau, was weinst du? Wen suchst du? Sie meint, es sei der Gärtner, und spricht zu ihm: Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir: Wo hast du ihn hingelegt? Dann will ich ihn holen. Spricht Jesus zu ihr: Maria! Da wandte sie sich um und spricht zu ihm auf Hebräisch: Rabbuni!, das heißt: Meister! (Johannes 20,15–16)

Am Anfang des Ostermorgens steht ein Irrtum. Denn Maria Magdalena traut dem Tod mehr als dem Leben. So erkennt sie den nicht, den sie betrauert. Es entbehrt nicht einer tiefen Ironie, dass sie ihn für den Gärtner hält, so eine Art Friedhofsmitarbeiter, der im Auftrag der Stadt den Park mit dem Grab betreut. Und dieser Mensch wird zum Wegweiser der Hoffnung. Ihm traut sie zu, dass er ihr den Weg zu dem weisen kann, den sie meint, für immer verloren zu haben.

Schließlich erfüllt sich ihre Hoffnung, aber ganz anders als erwartet. Die Sprache ist nicht immer die Quelle aller Missverständnisse, wie es der Kleine Prinz in der gleichnamigen Erzählung des französischen Autors Antoine de Saint-Exupéry so einprägsam formuliert. Zumindest nicht in dieser Ostergeschichte.

Die Sprache wird hier zur Tonspur des Lebens. Das eine Wort, der ausgesprochene Name macht anschaulich, was die Augen nicht sehen. Maria erkennt den, mit dem sie gar nicht mehr gerechnet hat. Sie antwortet auf das eine Wort, das er spricht, mit einem anderen Wort. Nennt nicht seinen Namen, sondern bringt wie in einer Art Bekenntnis zum Ausdruck, wen sie in ihm wiederentdeckt hat, den Richtungsgeber ihres Lebens, den, mit dessen Hilfe sie ihr Leben meistern kann.

Am Ende des Ostermorgens steht eine Gewissheit. Ja, manchmal genügt ein einziges Wort, und alles wird neu. Der Blick auf den Menschen mir gegenüber. Ja, auf mein ganzes Leben. Plötzlich wird Ostern zum Fest einer noch ganz anderen Auferstehung. Meiner eigenen.

Dritter Weg

Quasimodogeniti, 28. April

Dann werdet ihr euch freuen, die ihr jetzt eine kleine Zeit, wenn es sein soll, traurig seid in mancherlei Anfechtungen, auf dass euer Glaube bewährt und viel kostbarer befunden werde als vergängliches Gold, das durchs Feuer geläutert wird. (1.Petrus 1, 6–7)

Es gibt zwei Möglichkeiten, mit der Unzufriedenheit über die Gegenwart umzugehen. Entweder ich verkläre die Vergangenheit, weil das Beste angeblich hinter uns liegt. Oder ich verkläre die Zukunft und vertraue darauf, dass der Kurs der Aktien meines Lebens wieder steigt und Glorreiches vor mir liegt. Und sei es erst am Ende aller Tage.

Religionen können, wenn es drauf ankommt, auf beiden Klaviaturen der Lebensbewältigung spielen. Sie erinnern an paradiesische Vorzeiten und suchen die Schuld für die Misere der Gegenwart in der Unzulänglichkeit der Menschen. Oder sie vertrauen auf Durchhalteparolen, darauf, dass das wahre Leben erst jenseits des irdischen auf uns wartet. Diesem Irrtum geht nicht nur mancher Selbstmordattentäter auf den Leim. So oder so, beide Male erweist sich Religion als „Opium des Volkes“.

Beides Mal muss ich lernen, die Unerträglichkeit der Gegenwart irgendwie auszuhalten. Doch der unbekannte Schreiber des Briefes, der Petrus zugeschrieben wird, schlägt einen dritten Weg vor. Das Leben erhält seinen Wert nicht als schön geredetes, sondern als ein bewährtes und bewahrtes, gezeichnetes, ja geschundenes und erlittenes. Das Leben ist nicht ohne Würde und Glanz. Aber Vitalität hinterlässt Spuren. Und nicht selten sind sie schmerzhaft genug. Ja, es stimmt: Die Ansicht des Lebens bleibt viel zu oft hinter seiner Aussicht zurück. Irgendwie leben wir doch immer zwischen den Zeiten. Aber gerade hier gibt sich Gott besonders gern und besonders menschenfreundlich und zukunftsoffen zu erkennen.

Einheit in Vielfalt

Miserikordias Domini, 5. Mai

Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden.

(Johannes 10,16)

Dieser Satz, der ganz am Rande der Rede Jesu vom guten Hirten steht, wird oft übersehen. Aber mich stimmt kein anderer Satz der Bibel so froh wie dieser. Wir sind keine Ein-Stall-Gesellschaft. Auch nicht in der Kirche. Nicht alle müssen in derselben Weise blöken. Und wir müssen schon gar nicht denselben Stallgeruch an uns haben. Im Gegenteil. Es ist nicht der eine, enge und muffige Stall, der die Einheit der Herde begründet. Es ist vielmehr der eine Hirte, der die zusammenhält, die es sonst nicht mitein-ander aushalten würden.

An Trennungsspezialisten gibt es keinen Mangel. Sie sortieren und sondern aus. Sie heben Gräben aus und bauen Zäune. Sie formulieren die Regeln dafür, wer dazugehört und wer außenvor zu bleiben hat. Sie wollen Hirte und Hirtenhund in einem sein. Und das ist nicht nur heute so. Es ist vielmehr die Urversuchung der Menschen. Der Versuch, sich irgendwie gottgleich gebärden zu wollen. Nicht einmal in der Kirche sind wir davor gefeit. Die Kirchen, die in Südafrika die Rassentrennung religiös begründeten und überhöhten, sind dafür genauso ein Beleg wie die „Deutschen Christen“ der Nazizeit.

Eine „rassenreine“ Kirche wäre Verrat an dem einen Hirten und – das Ende der Kirche. Zwei Wochen nach Passion und Ostern sei daran erinnert: Es ist ein Afrikaner, der Jesus das Kreuz trägt. Und es ist ein heidnischer römischer Hauptmann, der unter dem Kreuz die Gottesnähe des Getöteten erkennt.

Kirche ist allemal eine Versammlung von Menschen mit Migrationshintergrund, die Gott in der Fremde seine Nähe feiern lässt. Und die gerade so zur Einheit in Vielfalt anstiftet.

Ungleiche Schwestern

Jubilate, 12. Mai

Als er die Grundfesten der Erde legte, da war ich beständig bei ihm; ich war seine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit. (Sprüche 8, 29–30)

Sage nur niemand, bei Gott gehe es nur todernst zu. Hier wird diese Annahme aus erster Hand widerlegt. Es ist die Weisheit, die mit Gott die Wohnung teilt. Sie ist schon da, als sonst noch nichts ist. Sie spielt vor Gott und erfreut Gottes Herz, noch ehe das Spiel der Schöpfung seinen Anfang nimmt. Hier wird ein seltener Einblick in die Wirklichkeit, ja in die Wohnwelt Gottes, gewährt. Auf überraschende Weise wird klar, dass Gottes Sein vor allem Anfang ein Sein mit anderen ist. Es ist Gott eine Freude, nicht allein zu sein. Und es zeichnet Gott aus, dass für ihn das Zusammensein mit der Weisheit purer Lustgewinn ist.

Der Logos, von dem am Anfang des Johannesevangeliums berichtet wird, „das Wort“, wie Martin Luther übersetzt, mag die Schwester dieser Weisheit sein. Aber während von diesem Wort berichtet wird, dass es sich in die Welt aufmacht und als Mensch unter die Menschen, verbleibt das Spiel der Schwester Weisheit stets im Umfeld Gottes.

Wir haben es also mit zwei ungleichen Schwestern zu tun, den beiden Söhnen im Gleichnis vom barmherzigen Vater nicht unähnlich. Und dass hier die Schwester Weisheit im Blickpunkt steht, vermittelt die Ahnung einer vorinkarnatorischen Theologie. Gott ist schon bei sich, ehe er Gott für uns und mit uns ist. Noch ehe seine Sehnsucht, mit anderen zusammen zu sein, im Blick auf die Weisheit erste Erfüllung findet. Aber Gottes Sehnen nach Gemeinschaft ist noch nicht am Ziel. Dazu braucht es die Schöpfung in ihrer ganzen Fülle. Im Grunde ist sie ein Spiegelbild von Gottes lustvollem Sein mit der Weisheit, nur in einer völlig anderen Dimension. Die Hoffnung bleibt, dass der Mensch, dem es an dieser Weisheit oft mangelt, Gottes Freude an der Schöpfung nicht allzu nachhaltig trüben kann.

Traugott Schächtele

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