Unter die Haut

Über die Heimat
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Es gehört zu den Stärken von Michaelis’ Buch, dass sie sich der Ambivalenz des Begriffs Heimat sehr bewusst ist.

Heimat“ ist zu einem toxischen Begriff geworden – und vielleicht war er das schon immer. Das scheinbar harmlose Wort beschreibt meist ein regionales Zuhause, einen Ort, aus dem man kommt oder der einem ein Gefühl von Wohlbefinden vermittelt. Es ist ein Begriff, der mit Gefühlen ungemein aufgeladen ist, im Guten vor allem, seltener im Bösen. Im Grunde hört beim Begriff Heimat das Argumentieren auf, nach dem Motto: Ich weiß, es ist komisch, aber es ist nun mal meine Heimat. Man sieht in der Heimat Dinge, die der oder die mit einer anderen Heimat nicht sehen, besser: nicht fühlen kann. Heimat hat also etwas Exklusives, und das macht diesen Begriff so problematisch.

Die Autorin Kristina Michaelis hat sich schon mit mehreren Büchern ihren Ahnen und ihrer Heimat, dem südhessischen Gelnhausen, angenähert, und in ihrem neuesten Buch, dem prächtigen Bildband Heimat, tut sie das erneut. Die Germanistin, die – auch das passt – über Elias Canetti und die „Dimensionen einer europäischen Identität“ promoviert hat, schildert in einfühlsam geschriebenen Porträts ganz unterschiedliche Menschen in und um die Kreisstadt Gelnhausen, die ein kleines Juwel ist, nicht zuletzt wegen ihrer Kaiserpfalz aus der Stauferzeit, um nur eine Sehenswürdigkeit zu nennen. Ja, es fällt nicht schwer, diese Stadt zu mögen oder gar zu lieben, gerade wenn man hier wie Michaelis geboren und aufgewachsen ist und sie „Heimat“ nennen darf.

„Heimat“ ist aber, spätestens seit Gründung eines politisch konservativ geführten Heimatministeriums auf Bundesebene, dessen Hausherr Abschiebungen heimatloser Flüchtlinge offenbar fast ein persönliches Anliegen zu sein scheint, zu einem Begriff geworden, der eine Note von Ausgrenzung in sich führt – oder doch zumindest problematisiert werden muss. Vor diesem Hintergrund ist jüngst ein recht oft wahrgenommener Sammelband von Beiträgen junger Autorinnen und Autoren mit Migrationshintergrund erschienen. Mit dem bezeichnenden Titel: „Heimat ist Albtraum“. Eine der beiden Herausgeberinnen sagte dazu zugespitzt: „Die Heimat der einen ist der Albtraum der anderen.“

Es gehört zu den Stärken von Michaelis’ Buch, dass sie sich der Ambivalenz des Begriffs Heimat sehr bewusst ist. In einem eindrucksvollen Vorwort fragt sie: „Wie können wir Heimat nicht nur rückwärtsgewandt, sondern in die Zukunft denken? Brauchen wir eine neue Definition von Heimat?“ Michaelis bietet eine solche Definition an, wenn sie schreibt, dass die von ihr beschriebenen Lebenswege „mehr vom Suchen als vom Finden“ handelten: „Am erstaunlichsten: In jedem Lebensweg steckt etwas, das uns im tiefsten Inneren eint. Die Sehnsucht, geborgen und anerkannt zu sein, verstanden zu werden, einen geschützten Raum zu haben, in dem man sich entfalten kann. Nennen wir ihn Heimat.“

Das ist ein weiter Heimat-Begriff – und die Menschen, die Michaelis vorstellt, decken in ihrer Vielfalt diese Weite. Vorgestellt werden etwa der frühere Hürden-Europameister Harald Schmid, die syrische Französischlehrerin Delshah Ali, die aufgrund des Bürgerkriegs in ihrer Heimat fliehen musste, und die beiden Wirtsleute Sven Förter und Belinda Lukas, die ein „Weincafé“ in Gelnhausen betreiben. Man kommt ihnen nahe auch durch die hervorragenden Schwarz-Weiß-Fotos von Robertino Nikolic, dem es gelingt, die porträtierten Personen in ihrer ganz eigenen Würde darzustellen.

Am pathetischsten sind dabei wohl Nikolic’ Porträtfotos von Peter Tauber. Der ehemalige cdu-Generalsekretär und jetzige Staatssekretär im Verteidigungsministerium lässt sich fotografieren in der Marienkirche von Gelnhausen. Denn dieser Ort liege ihm sehr am Herzen, er spiegele seinen Begriff von Heimat besonders, so Tauber, der sich als „bekennender evangelischer Christ“ bezeichnet. „Ich habe mir die Geodaten der Kirche sogar auf den Arm tätowieren lassen. So trage ich meine Heimat und meinen Glauben sichtbar mit mir“, erklärt er. Heimat geht eben immer unter die Haut.

Philipp Gessler

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