Eine Reise der anderen Art: Es war keine dieser schwimmenden Bettenburgen, die den jungen Hanns-Josef Ortheil und seinen Vater 1967 von Antwerpen ins Mittelmeer über Griechenland bis nach Istanbul führte. Anders als auf modernen Kreuzfahrtschiffen gab es auf dem Frachtschiff weder ein Animationsprogramm noch organisierte Ausflugsangebote. Was dafür an Bord und bei den Landgängen reichlich zur Verfügung stand: Muße zum Lesen (etwa der Odyssee!) und Nachdenken, Gelegenheit zum Gespräch und Offenheit zum Schauen und Staunen. Außerdem: Zeit zum Aufzeichnen des Geschauten – in Wort und Bild.
Aus den verschiedenen Quellen über diese Reise, insgesamt mehr als tausend Seiten, hat der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller Ortheil einen autobiographischen Roman gemacht. Darin lässt er sein Publikum teilhaben an der Entwicklung eines aus heutiger Sicht teils kindlich-naiven, teils erschreckend erwachsenen 15-Jährigen, der auf dieser Fahrt seine bis dahin weitgehend geschlossene Welt von humanistischer Bildung und klassischer Musik hinter sich lässt und neue Facetten des Lebens entdeckt: die Beatles zum Beispiel, aber auch eine bis dahin unbekannte Form der Frömmigkeit im griechisch-orthodoxen Christentum.
Ein Hörbuch gelesen vom Autor – das ist nicht automatisch ein Ausweis von Qualität. Ortheil jedoch kann lesen. So gelingt es ihm, seine Hörerinnen und Hörer mitzunehmen auf seine Mittelmeerreise, die zugleich eine Reise in die eigene Vergangenheit ist. Soviel Nähe erreicht die gedruckte Fassung des Buches vermutlich nicht. Die größere Flüchtigkeit eines Hörbuchs muss man dafür allerdings in Kauf nehmen.
Annemarie Heibrock
Annemarie Heibrock
Annemarie Heibrock ist Journalistin. Sie lebt in Bielefeld.