Flehen und Fluchen

Klartext
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Die Gedanken zu den Sonntagspredigten in den kommenden Wochen stammen von Jürgen Kaiser. Er ist Pfarrer in Stuttgart.

Innere Freiheit

20. Sonntag nach Trinitatis, 14. Oktober

Das sage ich aber, liebe Brüder: Die Zeit ist kurz. Fortan sollen auch die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine.; und die diese Welt gebrauchten, als brauchten sie sie nicht. Denn das Wesen der Welt vergeht. (1. Korinther 7,29-31)

Geht fremd! Zerstört die Welt“, solche Forderungen würde die falsche Schlussfolgerung aus dem ziehen, was Paulus schrieb. Der Apostel lebte, wie alle Christen seiner Zeit, in der Naherwartung. Sie erwarteten, dass Jesus noch zu ihren eigenen Lebzeiten auf die Erde zurückkehrt. Doch die ersten Christen starben, und Jesus war noch nicht gekommen. Das verursachte die erste große Krise der Christenheit. Ihre Bewältigung war eine Geburtsstunde der Theologie. Und Paulus war maßgeblich daran beteiligt.

Als er den Korintherbrief schrieb, hegte auch er noch die Erwartung, dass Jesus bald wiederkommt. Deshalb ist der Schlüssel zum Verständnis seiner Zeilen der Satz: „Die Zeit ist kurz.“ Aber gerade dies ermöglicht eine innere Freiheit. Denn im Bewusstsein des kommenden Reiches Gottes kann man schon jetzt freier leben. Wer an Gott gebunden ist, kann mit weltlichen Bindungen anders umgehen. Das bedeutet, mit dem Kopf schon im Himmel zu sein, aber mit den Füßen noch fest auf der Erde zu stehen. Und beides gehört zum Christsein, ermöglicht die Freiheit eines Christenmenschen. Es geht also nicht darum, seine Ehefrau betrügen und die Welt zerstören zu dürfen, sondern um die innere Freiheit, sich seiner Bindungen und Bedingungen bewusst zu werden.

Universaler Glaube

21. Sonntag nach Trinitatis, 21. Oktober

Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum Herrn; denn wenn’s ihr wohl geht, so geht‘s auch euch wohl.“ (Jeremia 29,7)

Nebukadnezar dachte strategisch. Bevor Israel groß werden konnte, entführte der babylonische König die israelitische Oberschicht nach Babylon. Die Bauern und einfachen Handwerker ließ er dagegen zurück. Schließlich musste jemand das Land bebauen.

So geschehen 597 vor Christus. In der „Babylonischen Gefangenschaft“ ging es der jüdischen Oberschicht bald besser, als heutigen Flüchtlingen in Deutschland. So durften sie sofort einen Beruf ergreifen, konnten sich innerhalb Babylons frei bewegen und in Verwaltung und Militär aufsteigen. Vor wenigen Jahren wurde in einem jüdischen Gräberfeld sogar das Grab eines babylonischen Generals jüdischen Glaubens gefunden.

Das kann man „Integration“ nennen. Mit dazu beigetragen hat Jeremia. Mit seinem Brief an die Oberschicht. Er enthält lauter Anweisungen dafür, wie man sich als Fremder in die neue Umgebung integriert. Nicht nur beten für die Stadt Babylon sollen die Israeliten, sondern auch aktiv „der Stadt Bestes“ suchen. Wenn das keine Aufforderung zu politischem Handeln ist.

Aber genauso klar warnte Jeremia seine Volks- und Religionsgenossen vor der Assimilation: Bleibt dem Herrn treu. Das taten viele, wenn auch nicht alle. Sie besannen sich auf das Erbe der Väter und passten es den Gegebenheiten an. So entstand die Theologie, wonach Gott sich nicht an eine Lade oder einen Tempel gebunden hat, sondern an die, die an ihn glauben, egal in welchem Teil der Welt sie leben. Gott ist also ein Gott, der die Menschen begleitet und den man daher überall anbeten kann.

So sind die ersten Synagogen entstanden. Und so hat das Judentum auch außerhalb seines Stammlandes überleben können. Jerusalem ist überall, weil Gott überall ist.

Auf dem Weg

22. Sonntag nach Trinitatis, 28. Oktober

So diene ich nun mit dem Verstand dem Gesetz Gottes, aber mit dem Fleisch dem Gesetz der Sünde. (Römer 7,25)

Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, homo hominem lupus. So realistisch sahen das die Römer. Und das bestätigt sich, wenn Pegida-Mitläufer nach Bekanntgabe der Zahlen derer, die über das Mittelmeer fliehen, „absaufen, absaufen“ brüllen.

Der Mensch ist verdorben von Anfang an. Theologen fassten dies in dem Begriff „Erbsünde“ zusammen. Der ist nicht moralisch gemeint. Er beschreibt vielmehr, dass der Mensch zu allem fähig ist. Ja, selbst wenn er das Gute tun will, tut er es nicht.

Ein biblischer Begriff dafür ist „das Fleisch“. Jedem römischen Christen, der wie Paulus aus dem Judentum kam, war dieser Begriff geläufig. Und an diese Christen wandte sich Paulus mit dem Abschnitt aus dem Römerbrief, der heute ausgelegt wird. Die Christen in Rom, die nicht im Judentum groß geworden waren, dürften dagegen kein Wort verstanden haben. Paulus ging es um die alte Erkenntnis, dass der Mensch nicht in der Lage ist, Gutes zu tun. Dazu muss ihn erst Jesus Christus befreien.

Doch mit dieser Erkenntnis ist noch kein neuer Zustand erreicht. Aber es gibt ein neues Ziel, das zu erreichen erst im Werden ist: „So diene ich nun mit dem Verstand dem Gesetz Gottes, aber mit dem Fleisch dem Gesetz der Sünde.“ Dieses „schon jetzt, aber noch nicht“ mögen viele Theologen nicht. Sie halten den Satz für einen späteren Zusatz im ach so schönen Römerbrief. Aber er steht schon in den ältesten uns bekannten Abschriften und dürfte deshalb paulinisch sein.

Das scheinbar Unlogische muss man eben aushalten und erkennen, dass man durch Christus ein neuer Menschen geworden, aber der alte Mensch gleichzeitig noch da ist. So lernt man beim Reflektieren der eigenen Existenz dialektisches Denken. Mit Luther kann man das kurz und knackig zusammenfassen: „Sündige kräftig - aber glaube noch kräftiger.“

Gut lutherisch

23. Sonntag nach Trinitatis, 4. November

Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott. (Römer 13,1)

Paulus holte mit dieser Weisung ein paar Spiritualisten unter den Christen Roms auf den Boden der Tatsachen zurück. Und er warf ein paar Mythen über Bord. Das ist das Aufregende an Römer 13.

Die kleine, damals unbedeutende Christengemeinde und ihr Spitzentheologe Paulus mussten eine klare Entscheidung treffen: Entweder den römischen Staat anerkennen, und so vielleicht überleben, oder als mystische Geheimreligion im Untergrund durchhalten.

Der römische Staat betrieb ja den Kaiserkult. Das heißt, die Obrigkeit und das Objekt religiöser Verehrung fielen in eins. Und an diesem Punkt setzt Paulus an. Der römische Staat ist Obrigkeit - nicht mehr und nicht weniger. Und die Obrigkeit hat die Aufgabe, im Chaos der Welt, des Zusammenlebens unterschiedlicher Menschen, für Ordnung zu sorgen. Und soweit die Obrigkeit das tut, ist sie anzuerkennen, und man muss ihr Steuern zahlen. Egal ob auf den Münzen ein Bild des Gottkaisers eingraviert ist oder nicht. Dass die Gravur einen Gott darstellt glauben ohnehin nur Nichtchristen. Für Christen spielt das dagegen keine Rolle. Für sie hat der Kaiserkult keine Bedeutung. Denn sie wissen wer Gott ist.

Später ist Martin Luther an Römer 13 ein Kronleuchter aufgegangen. Was für Paulus, Zeitgenossen der Kaiser in Rom war, war für ihn der Bischof von Rom, der Papst. Der mischte sich in alles ein, wollte überall mitreden und mitregieren. Wer ein politisches Amt bekam, musste dafür dem Papst Geld geben.

Und das stoppte Luther. Er unterschied zwischen dem Geistlichen Regiment, das in der Kirche galt, und dem Weltlichen Regiment, das die Landesherren ausübten, indem sie Verantwortung für den Staat und die Untertanen übernahmen. Aber auch das sollte nach den Regeln Gottes geschehen. Beide Regimente waren nach Luther von Gott eingesetzt, und daher waren sie ihm auch für ihr Tun verantwortlich. Deshalb ist es gut lutherisch, wenn Prediger Politiker und ihr Tun kritisieren und die Bundeskanzlerin dem Papst ins Gewissen redet.

Aber diejenigen, die sich später auf Luther beriefen, machten aus der Zwei-Regimenten-Lehre eine Zwei-Reiche-Lehre, die den politischen und den geistlichen Bereich trennte. Und ein Ergebnis war der von Pfarrern abgesegnete wilheminische Kadavergehorsam. Und das Erbe eines falsch verstandenen Paulus und Luther wirkt immer noch nach.

Streit mit Gott

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 11. November

Der Mensch, vom Weibe geboren ... geht auf wie eine Blume und welkt. (Hiob 14,1-2)

Gott hört einem zu, nur antwortet er nicht gleich“, lautet ein russisches Sprichwort. Eine solche Erfahrung muss auch Hiob machen. Er war sehr reich, führte eine glückliche Beziehung und hatte viele Kinder. Alles war also bestens. Doch dann folgten die Hiobsbotschaften: Hiob wird bitterarm, krank, die Frau lässt ihn im Stich, und die Kinder sterben. Er fragt: „Was habe ich verbrochen, dass ich von Gott so gestraft werde?“ Der heutige Predigtabschnitt spiegelt Hiobs Selbstzweifel: „Mein Leben ist ein einziges Elend und völlig verpfuscht! Und nun kommst auch noch Du, Gott, und bringst mich vor Gericht. Geht’s noch?“

Und viele mit und ohne Depression können einstimmen. Aber bei allem Jammer gibt es einen Grund zur Zuversicht: Gott ist da. Selbst wenn er sich sehr viel Zeit lässt und weder zu sehen, noch zu spüren ist. Hiob beschreibt ja nicht nur seine Lage, sondern klagt auch an. Er streitet mit Gott. Schmeißt ihm die Brocken seines antrainierten, oberflächlichen Glaubens hin. Es ist ein Glaube „vom Hörensagen“ gewesen, wie er erkennt.

Hiob streitet mit Gott. Und das darf man. Denn unser Gott ist ein Gott, mit dem man streiten kann und darf und soll. Der Glauben ist eben ein Prozess, ein Lebensweg zwischen Gebet, Flehen und Fluchen und - Gottes Antwort.

Jürgen Kaiser

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