
Mehr als neunzig Jahre Zeitgeschichte in sieben Stunden Hörbuch gelesen: Es ist dem deutschen Schauspieler Sylvester Groth zu verdanken, dass der Hörer nicht abschweift oder gar aussteigt. Groth liest den neuen Roman von Christoph Hein Verwirrnis ungekürzt. Über die Stunden hält er das Tempo ohne Pathos oder Gefühlsduselei. Und vielleicht liegt der Grund des Hörbucherfolgs auch in Heins nüchternem, beinahe schlichtem Stil, der sich ausgezeichnet zum Vorlesen eignet. In diesem Zeitpanorama geht es um Liebe, Gewalt, Schuld und tiefe Religiosität.
Der Pfarrerssohn Christoph Hein erzählt die Geschichte des am 1. September 1933 im thüringischen Heiligenstadt geborenen Friedeward Ringeling, dessen Vater Pius, ein tiefgläubiger Katholik und Lehrer, ein Veteran des Ersten Weltkriegs ist. Und von seiner Mutter, einer Krankenschwester, die in beiden Kirchenchören von Heiligenstadt singt. Sohn Friedeward verliebt sich in den Kantorensohn Wolfgang Zernick. Um sein allnächtliches Schreckgespenst der Verdammnis loszuwerden, das ihn auch im Erwachsenenalter als Professor am Leipziger Literaturinstitut nicht loslässt, liest der junge Mann in den katholischen Glaubenslehren und schlägt in der Bibel die Stellen zur Homosexualität nach.
Hein zeigt auf, wie die autoritären und patriarchalischen Strukturen in ihrer Menschenverachtung auch nach dem Zweiten Weltkrieg in Ost und West weiter wirken und die Protagonisten ins Unglück stürzen. Und Sylvester Groth, der an den eingestreuten landsmannschaftlichen Idiomen hörbar Freude hat, verleiht ihnen mit seinem ruhigen, intensiven Vortrag eine beklemmende Stimme.
Kathrin Jütte
Kathrin Jütte
Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.