Hemd und Hose

Warum die Theologie politisch nicht kleingläubig werden darf
Hatten wir nicht begriffen, dass der Ist-Zustand in sich schon apokalyptische Züge trägt, dass wir nicht bleiben werden, wenn alles bleibt, wie es ist?

Für Immanuel Kant hing an geschichtlicher Erinnerung nicht weniger als die Hoffnung, dass „das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei“, wie er im „Streit der Fakultäten“ schreibt. Er überwindet die eigene Skepsis gegenüber dieser Hoffnung durch den Hinweis, es gebe in der Geschichte „Begebenheiten“, die „zu groß …und ihrem Einflusse auf die Welt in allen ihren Teilen zu ausgebreitet“ seien, „als dass sie nicht den Völkern bei irgendeiner Veranlassung … in Erinnerung gebracht und zu Wiederholung neuer Versuche dieser Art erweckt werden sollten“. Dabei denkt Kant konkret an die gerade stattfindende Französische Revolution. Mag sie auch in Terror und Diktatur umkippen, der Aufbruch zu einem republikanischen Staatswesen auf dem Boden der Menschenrechte wird unvergesslich sein und sich allein dadurch auf Dauer durchsetzen. Moralisch-politischer Fortschritt hängt für Kant an der Erinnerung, die nicht erlaubt, hinter das einmal Ergriffene zurück zu fallen.

Die unvergesslich zum Imperativ werdende Erinnerung ist im 20. Jahrhundert allerdings ins Negative umgeschlagen. Die Schoa ist uns jene „Begebenheit“ geworden, die zu „groß“ ist, um vergessen zu werden, und die laut Theodor W. Adorno den kategorischen Imperativ dahin umformuliert, „dass Au-schwitz nicht sich wiederhole“. Von der Hoffnung, die Menschheit bewege sich beständig zum Besseren, ist geblieben, sie möge nicht dem Schlimmsten verfallen.

In diesem Jahr blicken wir auf die 68er-Bewegung zurück, die nun schon ein halbes Jahrhundert fern gerückt ist. Vielleicht kann man deren Pathos - in bonam partem - interpretieren als den Versuch, doch noch beide Seiten zusammen zu bringen: Im Kampf gegen Altnazis und Notstandsgesetze gilt Adornos Imperativ, doch ihre Hoffnung bezieht sich auf eine sozialistische Befreiung, die trotz allen Scheiterns so wenig zu vergessen sei wie die bürgerliche, die Kant erlebte.

Heute scheinen wir davon denkbar weit entfernt. Anhängerinnen und Anhänger Kants wie auch Adornos haben alle Hände voll damit zu tun, die Mindeststandards von Demokratie, Humanität und sozialer Gerechtigkeit zu verteidigen. Doch diese Fixierung auf die Verhinderung des Schlimmsten wirkt fatal. Sie lässt das Schlimme, das ist, als Besseres erscheinen gegenüber dem Befürchteten. Und so verteidigen nun tapfer den Parlamentarismus, die traurigen Reste unseres Asylrechts, die Institutionen der EU und das Pariser Klimaabkommen viele, die vor Jahren noch für den sozialen und ökologischen Umbau eines nicht zukunftsfähigen Kapitalismus eintraten. Hatten wir nicht begriffen, dass der Ist-Zustand in sich schon apokalyptische Züge trägt, dass wir nicht bleiben werden, wenn alles bleibt, wie es ist? Jetzt scheint sich all unser Hoffen darauf zu reduzieren, dass alles wieder werde wie vor Trump und AfD, Erdogan und Orbán.

Diese Situation fordert auch die Theologie heraus. Die Initiatoren einer neuen politischen Theologie beider Konfessionen in der Nachkriegszeit wussten um die notwendige Verknüpfung von Widerstand und Hoffnung: Jürgen Moltmann verbindet die Theologie der Hoffnung mit der des Kreuzes, Johann Baptist Metz Befreiungsgeschichte und gefährliche Erinnerung. Am radikalsten wohl gehören bei Friedrich-Wilhelm Marquardt christlicher Sozialismus und die Theologie nach Auschwitz zusammen.

Mir scheint, wir stecken in einem politischen, auch intellektuellen Klima, das der alten Redensart Recht gibt, nach der einem im Zweifelsfall das Hemd näher sei als die Hose. Fatal, wenn die „besorgten Bürger“ und jene, die sich wegen der „besorgten Bürger“ Sorgen machen, dies gemeinsam haben. Fatal, weil man gerade bei gerettetem Hemd mit verlorener Hose dennoch nackt da steht.

In dieser kleinmütigen Situation sollten sich Theologinnen und Theologen darauf besinnen, dass Apokalyptik und Messianismus zusammen gehören. Sie sollten darüber nachdenken, wie sich dies in eine säkulare politische Sprache übersetzen lässt. Warum kommt aus Kirchen und Theologie kaum etwas hörbar Klares zu den nicht beliebigen, sondern notwendigen Entscheidungen angesichts der ökologischen Katastrophe und einer sozialen Spaltung der Welt, von der wir mit der unsere Breiten erreichenden „Flüchtlingskrise“ nur die schwächsten Symptome wahrnehmen (wollen)?

Das Christentum ist eine Erinnerungsgemeinschaft an einen und jene „Begebenheiten“ um ihn, die „zu groß“ sind, um vergessen zu werden und um nicht immer wieder zu „Wiederholung neuer Versuche dieser Art“ anzustiften. Gewiss: Damit ist noch keine Politik gemacht. Aber ließen sich die Reich-Gottes-Gleichnisse dieses gefährlich Erinnerten auf unsere Redensart hin nicht so paraphrasieren, dass auch noch sein Hemd verlieren wird, wer es krampfhaft festhält, weil es ihm näher erschien als die Hose?

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Dr. Gregor Taxacher ist Dozent für katholische Systematische Theologie und ihre Didaktik an der TU Dortmund.

Gregor Taxacher

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Gregor Taxacher

Gregor Taxacher ist römisch-katholischer Theologe, Geschichtsphilosoph, Journalist und Autor. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Katholische Theologie der Technischen Universität Dortmund. 2012 erschien sein Buch „Apokalypse ist jetzt: Vom Schweigen der Theologie im Angesicht der Endzeit“.


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