Räume für den Glauben öffnen
Im Jahr 2017 haben wir in den mittel- und ostdeutschen Kirchen die Erfahrung gemacht: Menschen, die Kirche und Glaube gleichgültig gegenüber stehen und bisher kaum ansprechbar waren, lassen sich ansprechen und einladen, wenn wir als Kirche raus auf die Plätze gehen. Sehr viele, überraschend viele Menschen haben sich in allen Kirchentag-auf-dem-Weg-Städten an offene und gastfreundlich gedeckte Tische einladen lassen. Und dort, das ist besonders erstaunlich, wurde nicht über das Wetter oder anderen Smalltalk geredet. Vielmehr sind die Menschen dort miteinander sehr intensiv über Glaubens- und Lebensfragen ins Gespräch gekommen. Überaus deutlich ist so geworden: Der Zugang zu Gemeinde und Kirche kann nicht niedrigschwellig genug sein.
Diese Erfahrung von „Umsonst-und-draußen“ bestärkt uns in unserem Nachdenken über Kirchenzugehörigkeit und -mitgliedschaft. In unserem Kinder- und Jugendgesetz haben wir bereits die Aussage gewagt: „Wer kommt, gehört dazu.“ So gewagt erscheint diese Aussage zunächst nicht, denn das ist mit der Erwartung verbunden, dass manche sich erst im Konfirmandenalter taufen lassen. Aber was, wenn nicht? Dürfen sie dann auch in den Jugendvertretungen mitwirken wie Getaufte? Oder ab einem bestimmten Alter ohne Taufe nicht mehr? Oder können wir sie weiter als auf dem Weg zu ihrer Taufe – wann auch immer – ansehen und deshalb in einem weiteren Sinn als zu unserer Gemeinschaft gehörend?
Wenn wir so auf Kinder und Jugendliche sehen, warum nicht auch in gleicher Weise auf Erwachsene? Denn das ist unsere Erfahrung seit Jahren: Die Zahl der Kirchenmitglieder nimmt dramatisch ab, zu etwa einem Viertel durch Kirchenaustritte, aber der weitaus wirksamere Grund ist der demographische Wandel. Das betrifft die Mitglieder mit regulärem Mitgliedschaftsstatus. Aber zugleich sind wir mehr, als es auf dem Papier aussieht, denn es gibt viele Menschen, die nicht getauft und kein Kirchenmitglied sind und die dennoch gerne mitarbeiten und sich zugehörig fühlen, in der Jugendarbeit, in den Chören, in den Schulen, in der Diakonie. Gehören sie zu uns? Wie gehören sie zu uns? Und wie gehören wir zusammen in eine, in welche Gemeinschaft?
Gerade die Nicht-Getauften in den Chören wirken direkt im Verkündigungsdienst mit! Wie verstehen wir diese Partizipation Konfessionsloser theologisch? Auch in der Hinsicht, dass wir auf ihre Mitarbeit und ihr Mitwirken angewiesen sind, um unseren kirchlichen und diakonischen Auftrag wahrzunehmen? Bald stehen wir vor dem Problem, dass wir in unseren evangelischen Schulen beispielsweise dem Sport- oder Physiklehrer kündigen müssen, weil er sich noch nicht hat taufen lassen. Würde es nicht auch ausreichen, wenn Nicht-Getaufte, wie bereits vielfach in unseren diakonischen Einrichtungen, das christliche Menschenbild, die Schulen betreffend, wie es in der jeweiligen Schulkonzeption formuliert ist, bejahen und nach Kräften mittragen?
Und dann sind da noch die, die sich gerne taufen lassen möchten, aber wegen der mit der Kirchenmitgliedschaft verbundenen Kirchensteuer davor zurückschrecken. Das ist ein noch heiklerer Aspekt: Bei der Verbindung von Taufe und Kirchensteuerpflichtigkeit denken wir von der Institution her. Was würde es bedeuten und wie kann es gelingen, auch von den Menschen her zu denken, die auf dem Weg sind? Wie könnte eine geöffnete und begleitete Zugehörigkeit oder Mitgliedschaft aussehen? Wir brauchen ein Mitgliedschafts- beziehungsweise Zugehörigkeitsverständnis, das diese Mitarbeitenden nicht strikt ausschließt, sondern das einen Übergangsbereich, einen Zugehörigkeitsbereich in Nähe kennt und ernst nimmt.
Wir diskutieren, inwiefern wir dabei an den altkirchlichen Katechumenat anknüpfen können; mit dem Unterschied, dass die Menschen heute sich nicht, vielleicht noch nicht, zur Taufe angemeldet haben, aber dass sie vielleicht auf einem Weg zur Taufe sind. Welche sozialen, kulturellen und religiösen Räume öffnen wir, in denen Glaube wachsen kann? Für eine Eröffnung solcher Zugehörigkeitsräume als Form von Mitgliedschaft – dann wohl mit einem veränderten Mitgliedschaftsverständnis – sprechen auch die Erfahrungen 28 Jahre nach dem Ende der Diktatur und ihrer kirchenfeindlichen Politik. Diese Erfahrungen sind: Wenn Erwachsene in unseren hoch säkularen Regionen sich taufen lassen, dann sind sie allermeist einen Weg von zehn bis zu zwölf Jahren hin zur Taufe gegangen.
Diese Gedanken bewegen uns vor dem Hintergrund, dass wir in den Bundesländern der ehemaligen DDR in einer doppelten, beziehungsweise „forcierten Säkularität“ (Monika Wohlrab-Sahr) leben. Wir haben teil am allgemeinen postmodernen Misstrauen gegenüber großen Institutionen und am Zwang zur individuellen Wahl zwischen vielen Optionen. Davon sind wir in West und Ost betroffen. In Mittel- und Ostdeutschland wirken darüber hinaus zwei Diktaturen nach, die ideologisch mit dem volkskirchlich geprägten christlichen Glauben konkurriert haben. Hat die erste, die NS-Diktatur, eine Vereinnahmung versucht, so hat die zweite Diktatur der DDR den christlichen Glauben mit großem Druck bis hin zu Verfolgung so gut wie zum Verschwinden gebracht. Sie hat sehr vielen keine Wahl gelassen – oder eine in der Regel sehr schwere und persönlich und existentiell zu tragende für diejenigen, die beim christlichen Glauben und Bekennen verblieben. Wir haben es also in der Wirkung mit einem vollständigen Abbruch der Verankerung vieler in der christlichen Glaubenstradition zu tun. Insofern kann in unserer Region von einer forcierten Säkularität gesprochen werden.
Hinzu kommt, dass die Menschen nach Jahrzehnten der Zwangsvergemeinschaftung von verordneten Großveranstaltungen in vorgeschriebenen Großorganisationen genug haben. Der Rückzug ins Private ist auch hier nicht nur der allgemeinen Säkularität geschuldet, vielmehr auch dem Misstrauen, vereinnahmt zu werden.
So brauchen wir eine kontextuale Theologie, eine Ekklesiologie, die den Menschen in diesem Kontext im wahren Sinn des Wortes entgegenkommt und dafür auch einen Rechtsraum öffnet.
Pro und Contra: Kirchenmitgliedschaft light?