Großer Verführer, kleiner Mensch
Ein Interview mit Papst Franziskus in einer italienischen Fernsehsendung zu den Vaterunser-Bitten hat ein anhaltendes Echo ausgelöst: nicht Gott führe Menschen in Versuchung, sondern der Satan. Damit verbunden ist eine Frage der Bibelübersetzung, denn der Papst verweist positiv auf die Neufassung der letzten Vaterunser-Bitte, welche die französischsprechenden katholischen Bischöfe der Schweiz in Gang gesetzt haben. So erreichen Fragen der angemessenen Bibelübersetzung breite kirchliche und auch ökumenische Kreise, was sehr zu begrüßen ist. Denn dass die jeweils von den Kirchen autorisierte Bibelübersetzung nicht einfach das ‚Original‘ ist, vor dem andere und neue Übersetzungen sich zu verantworten hätten mit ihren jeweiligen ‚Abweichungen‘, war ja im großen Stil insbesondere seit dem Erscheinen der Bibel in gerechter Sprache 2006 zu lernen. Das ‚Original‘ sind die hebräischen, aramäischen und griechischen, teilweise sehr unterschiedlichen antiken und mittelalterlichen Handschriften der biblischen Texte, die kritisch erschlossen und in alle Weltsprachen stetig neu übersetzt werden müssen, um Menschen aller Nationen und neue Generationen erreichen zu können.
Obwohl also eine Neuübersetzung eines biblischen und liturgischen Textes vorliegt, wird teilweise öffentlich von einer „Änderung“ der Worte Jesu gesprochen, die nicht zulässig sei, als habe Jesus in Matthäus 6,13 wörtlich auf deutsch für seine Jüngerinnen und Jünger formuliert: „Und führe uns nicht in Versuchung …“, womit die Diskussion, ob auch im Deutschen eine Neuübersetzung des Vaterunsers im Raum der Kirchen nötig sei, beendet werden soll. Das Gebet Jesu haben wir jedoch allein als griechischen Text, eine mögliche aramäische Urfassung muss hypothetisch bleiben, solange keine derartige Handschrift gefunden wird.
Die französische Neufassung, die laut Agenturmeldungen alle frankophonen katholischen Kirchen, mit Ausnahme Kanadas, weltweit übernehmen werden, liegt indes näher am griechischen Text als die alte Fassung, welche lautete: „Et ne nous soumets pas à la tentation“ („Und unterwirf uns nicht der Versuchung“). Das Verb „soumettre/unterwerfen“ ist eher eine zu starke Wiedergabe des griechischen me eisenegkes hemas in Matthäus 6,13, welches wörtlicher „trag uns nicht hinein“ oder „bring uns nicht hinein“ meint. Die neue, vom Vatikan bereits 2013 autorisierte Version lautet nun: „Et ne nous laisse pas entrer en tentation“ („Und lass uns nicht in Versuchung geraten“). Beide sind angemessene Übersetzungen, die erste etwas freier, die zweite durchaus textnäher, wobei sie durch eine passivische Formulierung nicht deutlich sagt, wer denn die Versuchung verursache: Es gibt die Möglichkeit einer Versuchung, und Gott möge verhindern, dass die Betenden ihr ausgesetzt sind. Ob Gott selbst in sie hineinführt, bleibt offen.
Darauf kommt es dem Papst an, indem er für Eindeutigkeit ist: Ein Vater tue das nicht, ein „Vater hilft mir, sofort wieder aufzustehen. Wer in Versuchung führt, ist der Satan.“ Dies sagt der griechische Text nicht genau, appelliert jedoch mit dem zweiten Teil der Bitte an die mütterlich-väterliche Liebe Gottes, vor dem Bösen bewahrt, erlöst zu werden. Franziskus kommt mit seiner Auslegung Luther sehr nahe, der im Kleinen Katechismus erklärt: „Gott versücht zwar niemand, aber wir bitten in diesem Gebet, daß uns Gott wollt’ behüten und erhalten, auf daß uns der Teufel, die Welt und unser Fleisch nicht betriege und verführe in Mißglauben, Verzweifeln und ander große Schande und Laster, und ob wir damit angefochten würden, daß wir doch endlich gewinnen und den Sieg behalten.“
Was also ist „Versuchung“? Hier scheint mir für die deutsche Übersetzung die eigentliche Frage zu liegen, und falls es je zu Neuübersetzungen und Neuformulierungen dieser Gebetsbitte im deutschen Sprachraum käme, hätte sie hier anzusetzen. Denn es ist zu bezweifeln, dass Kinder und Jugendliche, aber auch die breite Bevölkerung das Stichwort „Versuchung“ mit dem eigenen Erleben und seinen religiösen Dimensionen ohne weiteres verbinden könnten. Schon das Grimmsche Wörterbuch (Ausgabe 1914) ordnet es allein dem biblischen, nicht mehr dem alltäglichen Sprachgebrauch zu. Nach dem Duden sind damit erotische Assoziationen wie Verführung verbunden. Oder uns fällt Schokoladenreklame dazu ein. In Erinnerung bleibt auch der Bilderbogen „Die Versuchung des Hl. Antonius“ von Wilhelm Busch, worin sich die anfangs so schöne Dame dem Heiligen schließlich als scheußliche Teufelin offenbart. Doch ist in der Bibel die sexuelle Sphäre nicht der Bereich von „Versuchungen“.
Das griechische Wort peirasmos bedeutet so etwas wie Erprobung oder Prüfung, entsprechend dem hebräischen Verb nissah. Modern könnten wir auch von Versuchsanordnung oder auch von einem Test sprechen. Und es ist stets die Frage, wer denn eine solche Prüfung anordnet. In 1. Mose 22,1 ist es Gott selbst, der Abraham auffordert, sein eigenes Kind Isaak zu opfern. Jesus wird von der Geistkraft Gottes in die Wüste geführt, um dort vom Teufel auf die Probe gestellt zu werden (Matthäus 4,1). Dieser heißt denn auch peirazon (Matthäus 4,3), Versucher oder Prüfer. Gott kann also selbst eine solche Prüfung verfügen, darin liegt die Brisanz der biblischen Erzählungen. Sie ergibt sich aus dem Glauben an die eine und einzige göttliche Macht, die letztlich über allem steht, auch dem Bösen. Dieses hat keine selbstständige und vor allem nicht gottgleiche Potenz. Daher formuliert die letzte Vaterunser-Bitte auch so offen und sagt nicht klar, wer denn die „Versuche“ anordnet. Doch der zweite Teil der Bitte hält fest an der letztendlichen und alles entscheidenden retttenden Barmherzigkeit Gottes: „erlöse uns, löse uns aus dem Bösen!“ – unabhängig von der Frage, wer oder was denn die bedrängende Lage verursacht hat.
Die Versuchungsgeschichte Jesu, die darin gipfelt, dass Jesus sich weigert, vor dem Teufel niederzufallen und ihn anzubeten, um die Weltherrschaft zu erringen, zeigt auch klar die Dimension der Prüfung, worum es eigentlich geht: Es ist die Verleugnung Gottes, die Abwendung von Gott und Gottes guter Weisung zum Leben. Das möge nicht passieren, davor möge Gott uns bewahren, uns helfen, nicht derartig geprüft zu werden wie Abraham oder Jesus, was wir kaum bestehen würden. Wir bitten, dass wir niemals in eine solche entsetzliche Lebenslage kommen, die uns veranlassen könnte, zu sagen, dass Gott nicht existiere, und damit auch die Unterscheidung von gut und böse und woran wir uns nun orientieren, völlig gleichgültig sei. Die Umschreibungen Luthers für eine solche Lebenslage wie „Anfechtung, Mißglauben, Verzweifeln“ sind hier hilfreich, um die Erfahrungsebene dieser Bitte zu erfassen. Denn auf dem Grund der eigenen Lebenserfahrung und ihrer jeweiligen Deutung spielt sich ja für uns alles ab, die größten geistigen Höhenflüge und Erfindungen, ebenso wie die Empfindung von Schmerz, Hunger, Beruhigung und Glück oder vielfältige Kommunikation und Begegnung. Und eben auch aller Glaube, alles Vertrauen in Gott. Mit der Bitte, vor verzweifelten Situationen bewahrt zu werden, geht es um die Hoffnung, die notwendige und Not wendende Erfahrung von Gottes Nähe nie zu verlieren.
Neuere deutsche Übersetzungen haben es unternommen, andere Formulierungen für die „Versuchung“ zu finden:
„Führe uns nicht in Zerreißproben, sondern erlöse uns von dem Bösen“ (Übersetzung für den Deutschen Evangelischen Kirchentag Stuttgart 1999);
„Und führe uns nicht in Anfechtung, sondern beschütze uns vor dem Bösen“ (Klaus Wengst);
„Führe uns nicht zum Verrat an dir, sondern löse uns aus dem Bösen“ (Bibel in gerechter Sprache sowie die Übersetzung für den Deutschen Evangelischen Kirchentag Dresden 2011).
Der oder das Böse, beides ist grammatisch möglich, ist die Sphäre der Gottesferne, aus der zu erretten das Gebet sich erhebt. Bei der Betrachtung des Weltgeschehens und Millionen von Einzelschicksalen kann ja die Erfahrung fragen: Wo ist Gott und damit Güte und Erbarmen? Der antike und mittelalterliche Teufel ist eine Chiffre für alle Mächte der Lebensvernichtung und todbringenden Handlungen, in die Einzelne verwickelt sein können, selbst ohne es zu wollen. Gottes Schutz vor dem Bösen ist im Grunde die Hilfe, das zentrale Dekaloggebot „Du sollst nicht töten“ erfüllen zu können. So dass wir bewahrt werden vor Nihilismus, Zynismus und jeglicher Form des Mitmachens in Prozessen, die anderes Leben bedrohen, schädigen und vernichten. Dass unser eigenes Leben in der Krisensituation bewahrt bleiben möge, ist Teil dieses Zusammenhangs. Es geht um die niemals endende nahe Beziehung zu Gott, die das Leben selbst ist und schenkt.
Die Bitten des Vaterunsers bringen alles zum Ausdruck, was Jesu Jüngerinnen und Jünger brauchen für ihre leibliche, psychische und geistliche Existenz, für ihr Überleben und das der anderen Menschen, für das Finden des wahren Lebens: Dass Gottes heiliger Name auf Erden wirksam werde, seine gerechte Welt komme, Himmel und Erde erfüllt seien von der Durchsetzung des heilvollen Willen Gottes, dass auch das Brot für morgen gegeben ist, sie anderen Menschen deren Schulden und Schuld erlassen und so selbst mit Gottes Vergebung verbunden sind, dass Gott sie vor der Verführung zum Bösen bewahren möge und vor der Verzweiflung zu meinen, dass Gott nicht für sie da sei.
Literatur:
Klaus Wengst: Das Regierungsprogramm des Himmelreichs. Eine Auslegung der Bergpredigt in ihrem jüdischen Kontext. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2010, Euro 24,90.
Marlene Crüsemann