Von Ferne braust das Meer
Ein Bus kommt auf die Bühne, ein echter Omnibus. Im Programmheft kann man nachlesen, um welches Modell es sich handelt, nämlich einen „Kraftomnibus mit Einfachtüren“, den die bayerische Firma Lindner im März 1990 erworben hat. Nach 3?590 Reisen und 969?300 gefahrenen Kilometern hat sie ihn mit gebrochener Antriebswelle im November 2011 außer Dienst gestellt.
Dies alles und noch viel mehr war im April 2016 bei der spektakulären Inszenierung des Werkes „La Passione“ durch den italienischen Regisseur Romeo Castellucci in den Hamburger Deichtorhallen zu erleben und zu erfahren (siehe Foto). Die weißgewandeten Musikerinnen und Musiker sangen und spielten zu Castellucccis Inszenierungs- und Aktionskunst . Bachs Matthäuspassion.
Castelluccis Projekt gehört zu den jüngsten und bisher spektakulärsten zeitgenössischen Kunstaktionen, die sich mit dem Werk auseinandersetzen, aber es ist beileibe nicht die erste. Weltberühmt wurde schon die getanzte Matthäuspassion, die John Neumeyer 1980/81 schuf - die Version einer Wiederbelebung des christlichen Kults im Tanz. Neumeyers Stück ging um die Welt, es wurde in New York, Hiroshima und Venedig aufgeführt. Die Beschäftigung von Künstlern aller Couleur mit der Matthäuspassion von Bach ist ein Zeugnis dafür, dass sie viele Menschen fasziniert und immer wieder zur Auseinandersetzung mit ihr anstiftet.
Musikgeschichtlich gesehen ist Bachs Matthäuspassion der Endpunkt einer Entwicklung, die im fünften Jahrhundert begann: Damals wurde es üblich, in den Gottesdiensten in der Karwoche die Passionsgeschichte - aus einem der Evangelien gesungen - darzubieten. Zunächst tat dies immer nur ein Sänger, seit dem 13. Jahrhundert ist die Aufführung mit verteilten Rollen belegt.
Ab Ende des 15. Jahrhunderts wurde die Kompositionsart der Passionen vielfältiger: Es entwickelte sich einerseits eine kleine Oratorienform, in der - zunächst noch ohne Instrumentalbegleitung - der Text der Menschengruppen (Jünger, Hohepriester, Volk) in mehrstimmigen Chören dargeboten wurde, andererseits entstand eine Form, in der der gesamte Text als mehrstimmige Motette zum Vortrag kam. Einen ersten Höhepunkt erreichte die Passionsmusik in Deutschland im Werk von Heinrich Schütz (1585-1672), dem überragenden deutschen Komponisten des 17. Jahrhunderts. Von Schütz sind drei Passionen überliefert - kleine Oratorien, noch ohne Instrumente, aber mit größeren Chorsätzen zu Beginn, anspruchsvoll gesetzten Chören für die Worte der Jünger und andere Gruppen, sowie kunstvoll ausgestalteten Partien des Evangelisten, die sich zwar noch an dem alten gregorianischen Rezitationston orientierten, aber zunehmend melodische Formen integrierten. Mitte des 17. Jahrhunderts entstanden dann die ersten Passionen mit Instrumentalbegleitung.
Zum Gipfel geführt
Johann Sebastian Bach führte die Gattung der oratorischen Passion schließlich zum Gipfel. Seine Matthäuspassion erklang erstmals am 11. April 1727 im Karfreitagsgottesdienst am frühen Nachmittag in der Leipziger Thomaskirche. Die Aufführung dieses gewaltigen Werkes, besetzt mit zwei vierstimmigen Vokalchören, denen jeweils ein komplettes Orchester mit Streichern, Oboen und Flöten und Basso Continuo zugeordnet ist, dauert etwa drei Stunden. Und zu Bachs Zeiten gab es zwischendrin noch eine Predigt von mindestens einer Stunde Länge, sodass insgesamt von mehr als vier Stunden Dauer auszugehen ist.
Dass die Matthäuspassion Menschen bis heute weltweit in den Bann schlägt, liegt an der außerordentlich ästhetischen Qualität des Werkes, die sich auf drei Ebenen entfaltet. Zum einen ist da der Evangelientext, der vom Evangelisten, den verschiedenen Solisten (Jesus, Pilatus, Petrus und andere) und den Chören, die Menschengruppen verkörpern, dargeboten wird. Schon auf dieser Ebene gelingt Bach eine große Vielfalt der dramatischen Darstellung, der melodischen Schönheit und des harmonischen Reichtums.
Hinzu tritt in Gestalt von 15 Arien eine zweite, betrachtende Textebene, die Bachs damaliger Textdichter Christian Friedrich Henrici alias „Picander“ beisteuerte. Die Arien lassen den dramatischen Handlungsablauf der Passion innehalten - sie zielen auf Reue, Trost und Zuspruch und verkörpern das betrachtende, gläubige Ich. Zu den berühmtesten Arien von Bach überhaupt gehören die Altarie „Erbarme dich“ nach dem Verrat des Petrus und die ätherisch-schwebende Sopranarie „Aus Liebe will mein Heiland sterben“ inmitten der tobenden Volksmenge. John Eliot Gardiner, der britische Bachexperte, beschreibt ihre Wirkung so: „Die Musik dieser erhabensten aller Arien strahlt etwas zeitlos Heilendes und Segnendes aus; in einer Welt wie von Sinnen wirkt sie wie eine Oase der Vernunft.“
Die dritte Ebene des Werkes bilden schließlich zwölf vierstimmige Choräle, darunter allein fünf Strophen von Paul Gerhardts „O Haupt voll Blut und Wunden“. Sie verkörpern in Bachs Konzept die gläubige Gemeinde. Von ihnen hat besonders „Wenn ich einmal soll scheiden“, der letzte Choralsatz der Passion, Kultstatus erlangt. Hinzu kommen dann noch als Rahmen der Passion zwei große Chöre und eine beeindruckende Choralvariation über „O Mensch, bewein dein‘ Sünde groß“. Der ausladende Eingangschor des Werkes ist sehr besonders: Eingebettet in ein fließendes Lamento in e-Moll im 12/8-Takt treten die beiden Chöre in den Dialog: „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen! Sehet! - Wen? - Den Bräutigam! - Seht ihn! - Wie? - Als wie ein Lamm!“ Und in dieses trauernd-dramatische Wogen hat Bach noch den Choral „O Lamm Gottes, unschuldig“ eingetragen, der das wogende e-Moll mit erlösendem G-Dur kontrastiert. Heute werden diese Choralzeilen häufig von einem Knaben- oder Kinderchor gesungen. Was für eine Fülle! „Bach steht unter irgendeiner Dusche von Eingebung. Es gibt kein Wort dafür - vielleicht Vollkommenheit in allem“, sagte der im vergangenen Jahr verstorbene Dirigent und Bachforscher Nikolaus Harnoncourt einst über das Werk.
Unbekannt hingegen ist, wie die Erstaufführung 1727 damals ankam. Zeitgenössische Reaktionen sind nicht überliefert, auch nicht auf die weiteren Aufführungen in Leipzig bis 1742. „Gut möglich, dass diese einzigartige Verquickung von Musik, Exegese und Dramatik das ursprüngliche, bibelfeste Publikum ebenso verblüffte, wie sie über die Köpfe vieler heutiger, mit der Bibel oft wenig vertraute Konzertbesucher wohl hinwegrauscht; und doch können auch Letztere sich ihrem Bann nicht entziehen“, mutmaßt John Eliot Gardiner.
Die Karriere als weltumspannendes Kunstwerk begann die Matthäuspassion erst im 19. Jahrhundert. Felix Mendelssohn-Bartholdy war 14 Jahre alt, als ihm seine Großmutter Bella Salomon im Jahre 1823 eine Abschrift der autographen Partitur der Matthäuspassion schenkte. Mendelssohn studierte sie begeistert und strebte danach, sie aufzuführen. Gegen viele Widerstände setzte er sich durch und gewann die renommierte Berliner Singakademie für sein Vorhaben. Die Aufführung fand am 11. März 1829 in Berlin statt, geleitet vom gerade zwanzigjährigen Felix Mendelssohn. Dem Ereignis wohnten Geistesgrößen wie Schleiermacher und Hegel bei, und berühmt geworden ist der Satz aus einem Brief Goethes an Carl Friedrich Zelter, den Leiter der Berliner Singakademie, der dem Dichterfürsten von der Wiederaufführung berichtet hatte: „Es ist mir, als wenn ich von ferne das Meer brausen hörte.“
Dass gerade Mendelssohn die Matthäuspassion wieder zum Leben erweckte, entbehrt nicht einer gewissen Ironie, deren sich das junge Genie durchaus bewusst war. Nach einer Überlieferung des Schauspielers und Sängers Eduard Devrient, sei Mendelssohn im Jahr 1829 einmal mitten auf der Straße stehengeblieben und habe ausgerufen: „Dass es ein Komödiant und ein Judenjunge sein müssen, die den Leuten die größte christliche Musik wiederbringen!“ Obwohl im Alter von sieben Jahren getauft, hat Mendelssohn in seinem Leben durchaus antijüdische Anfeindungen erlebt.
Die Wiederaufführung der Matthäuspassion gilt als Beginn der so genannten Bachrenaissance. Sie öffnete den Weg für das Comeback anderer großer Vokalwerke von Johann Sebastian Bach, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierten. Die Matthäuspassion fand viele prominente Bewunderer und avancierte zu einer Art nationalem Weihespiel im Konzertsaal. Anknüpfend an Mendelssohn und dessen 153 Mitwirkende waren großformatige Besetzungen, teilweise mit mehreren hundert Musikern, an der Tagesordnung. Meist aber wurde das Werk mit Kürzungen aufgeführt. Schon Mendelssohn hatte 1829 zwei Drittel der Arien gestrichen, weil sie nach damaligem Zeitgeschmack die Dramaturgie des Werkes bremsten. Erst im 20. Jahrhundert wanderte das Werk verstärkt wieder in den Kirchenraum und ab den Sechzigerjahren veränderten die Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis die Art, Bach zu musizieren radikal. Heute gibt es sogar rein solistisch besetzte Aufführungen und Aufnahmen.
Aktuell steht ein ganz anderes Thema in Bezug auf Bach und seine Passionen auf der Tagesordnung: Unter dem Titel „Luther, Bach und die Juden“ sorgte eine Ausstellung im Bachmuseum Eisenach für Aufsehen. In der medialen Berichterstattung darüber wurde der Eindruck erweckt, Bach selbst sei nun als Antisemit entlarvt worden. So titelte Die Welt: „Warum Johann Sebastian Bach Antisemit war“. Hauptsächlich ging es in der Eisenacher Ausstellung um die Umstände der Wiederaufführung der Passion durch Mendelssohn und die erstaunlich große Zahl prominenter Juden, die um 1800 dafür sorgten, dass Bachs Werk nicht in Vergessenheit geriet. Allerdings wurde auch thematisiert, dass sich in Bachs Privatbibliothek das Buch Judaismus oder Judenthumb/ Das ist ein Außführlicher Bericht von des Jüdischen Volckes Unglauben / Blindheit und Verstockung des orthodoxen lutherischen Theologen Johannes Müller (1598-1672) befand - ob und wie Bach dieses Buch rezipiert hat, ist unbekannt. Dass Bach persönlich mit Juden zu tun hatte, ist unwahrscheinlich, denn zu Bachs Zeit wohnten gar keine Juden in Leipzig - nur zur Messe kamen sie in größerer Anzahl als Kaufleute in die Stadt.
Nur ein Indiz
Als einziges Indiz, dass sich Bach persönlich für die geschichtliche Beurteilung der Juden interessiert hat, wurde in der Ausstellung eine Eintragung des Thomaskantors in seine Bibel präsentiert. Dort ist in einer Kommentarspalte die Rede davon, dass die Juden seit der Zerstörung des Tempels „Zerstörung und Zerstreuung“ erfahren müssten und zwar schon „über 1600 Jahr“. Bach korrigierte die Zahl eigenhändig auf „1700“. Aber was soll das aussagen?
In Fachkreisen beschäftigt man sich schon länger mit der antijüdischen Wirkungsgeschichte von Bachs Passionen. Sie konzentriert sich einerseits auf die antijüdische Tendenz der Passionserzählungen der Evangelien, deren Text das Grundgerüst von Bachs Kompositionen liefert und andererseits auf die musikalische Umsetzung bestimmter Passagen. In der Matthäuspassion besonders die Passage „Sein Blut komme über uns und seine Kinder“, die Bach in einem entfesselten Volkschor komponiert. Leider sei die Sensibilität in weiten Kreisen der deutschen Kirchenmusik für solche Betrachtungen noch nicht ausgebildet, meint Christa Kirschbaum, Landeskirchenmusikdirektorin der hessen-nassauischen Landeskirche.
Im November 2016 verabschiedete die Synode der EKD „Eine Erklärung zu Christen und Juden als Zeugen der Treue Gottes“. Dort heißt es unter anderem: „Wir sehen uns vor der Herausforderung, unser Verhältnis zu Gott und unsere Verantwortung in der Welt auch von unserer Verbundenheit mit dem jüdischen Volk her theologisch und geistlich zu verstehen und zu leben. (.) Wo in Verkündigung und Unterricht, Seelsorge und Diakonie das Judentum verzeichnend oder verzerrt dargestellt wird, sei es bewusst oder unbewusst, treten wir dem entgegen.“
Vor diesem Hintergrund stellt sich schon die Frage, inwieweit auch die Aufführung der Matthäuspassion von Bach eine Verzeichnung oder Verzerrung darstellt, der entgegenzutreten ist.
Literatur
Jörg Hansen: „Luther, Bach - und die Juden.“ Katalog zur Sonderausstellung im Bachhaus Eisenach 2016. 44 Seiten. Preis 15,80 Euro. Farbige Broschüre (deutsch/englisch) mit vielen Abbildungen.
Reinhard Mawick