„.über uns und unsere Kinder“
Es ist eine der musikalisch und dramaturgisch dichtesten Passagen in Bachs Matthäuspassion: Zwei kurze, roh und wild anmutende Chöre: „Lass ihn kreuzigen“, die „das ganze Volk“ singt. Dazwischen ein Arioso und eine Arie des Soprans, in der das Heilswerk Jesu („Er hat uns allen wohlgetan .“) und das Heilswerk Christi („Aus Liebe will mein Heiland sterben, von einer Sünde weiß er nicht“) verherrlicht werden. Der Evangelist fährt im Evangelientext fort: „Da aber Pilatus sahe, dass er nichts schaffete, sondern dass ein viel größer Getümmel ward, nahm er Wasser und wusch die Hände vor dem Volk und sprach: ,Ich bin unschuldig am Blut dieses Gerechten, sehet ihr zu!‘“ Dann singt der Evangelist „Da antwortete das ganze Volk und sprach:“ und dann ertönen in einem massiven, machtvollen Chorsatz die im Evangelium folgenden Worte: „ Sein Blut komme über uns und uns’re Kinder!“
Verhängnisvolle Worte, denn die Auslegung und Benutzung dieses Bibelwortes zogen „eine Blutspur über die ungezählten Judenpogrome im christlichen Europa bis hin zum rassistischen Antisemitismus als dem säkularen Erbe des religiösen Antijudaismus“, so urteilte vor einigen Jahren der Philosoph Herbert Schnädelbach. Das „dem ganzen Volk“ in den Mund gelegte Wort findet sich nur bei Matthäus (27,25), ebenso die Motive vom Traum der Frau des Pilatus und von seiner rituellen Unschuldsbeteuerung (27,19 und 24). Alle drei Sonderüberlieferungen verstärken die judenfeindlichen Tendenzen der Passionsgeschichte des Matthäus.
Wie weit hat Bachs Werk daran Anteil? Schon die Frage löst heftige Reaktionen aus. Um sie zu versachlichen, ist zuerst nach subjektiver Wahrnehmung und erst dann nach dem Anhalt dafür im Werk zu fragen. Die subjektive Wahrnehmung wird vorwiegend durch die Musik bestimmt. Für viele ist sie die Hauptsache und übertönt verstörende Texte. Heutige Wahrnehmung steht aber auch unter dem Eindruck dessen, wohin die Judenfeindschaft im „Dritten Reich“ geführt hat. Das kann den Blick für judenfeindliche Töne im Werk schärfen und auch zu einseitigem Urteilen führen, aber es macht in jedem Fall auf die Texte aufmerksam.
Der Verständigung über das umstrittene Thema dient sodann die Definition von Judenfeindschaft. Deren verschiedene Inhalte enthält bereits der älteste christliche Beleg Erster Thessalonicher 2, 14-16. Paulus schreibt an die Gemeinde in Saloniki: „Denn ihr, Brüder und Schwestern, seid Nachfolger geworden der Gemeinden Gottes in Judäa, die in Christus Jesus sind; denn ihr habt dasselbe erlitten von euren Landsleuten, was jene von ihren erlitten haben, den Juden, die den Herrn Jesus getötet haben und die Propheten und die uns verfolgt haben und die Gott nicht gefallen und allen Menschen feind sind, indem sie uns hindern, den Heiden zu predigen zu ihrem Heil, um das Maß ihrer Sünden allenthalben voll zu machen.“
Zu den durch die Jahrhunderte tradierten verschiedenen Arten von Judenfeindschaft, dem Antijudaismus, kam in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die rassistische hinzu, der so genannte Antisemitismus. Die Arten lassen sich unterscheiden; zugleich durchdringen sie einander. Für alle sind konstitutiv Generalisierung und Typisierung der den Juden unterstellten unveränderlichen negativen Verhaltensweisen und Wesensmerkmale.
Religiös geprägte Judenfeindschaft (Antijudaismus) basiert auf der Annahme, das Judentum sei eine dem Christentum feindliche Religion, verbunden mit der Unterstellung, das einst erwählte Gottesvolk Israel sei von Gott verworfen und durch das „neue“ Gottesvolk, die Christen, das „wahre Israel“, ersetzt worden, vielfach unter Berufung auf Matthäus 27,25.
Die in Kirche und Theologie verbreitete Trennung von Antisemitismus und Antijudaismus ist allerdings eine einseitige christliche Festsetzung und missachtet jüdisches Selbstverständnis, sie ist selbst judenfeindlich. Außerdem funktioniert sie nur auf Seiten wohlmeinender Verfechter zur Entlastung ihres Gewissens und ermöglicht das Fortleben religiöser Judenfeindschaft.
Für Bachs Passionen kommt die religiöse Variante in Betracht; darin ist noch einmal zwischen direkt und indirekt judenfeindlichen Tönen zu unterscheiden, bedingt durch die Komposition des Werkes aus verschiedenen Texten: Das Grundgerüst bildet die Passionsgeschichte nach Matthäus Kapitel 26 und 27; sie erzählt nach dem Verständnis Martin Luthers eine „Historie“. Deren „Nutz und Brauch“ bringen Choräle und freie Stücke wie Arien und Ariosi zum Klingen.
Der Bibeltext ist durch seine einseitige, verzerrende Darstellung der jüdischen Akteure direkt judenfeindlich. Er kann den Eindruck erwecken, als berichte er ein tatsächliches Geschehen. So gelesen, bekräftigt er das traditionelle negative Urteil über die Juden. Es gibt jedoch vier verschiedene Passionsgeschichten. Sie spiegeln verschiedene Situationen in den zugehörigen Gemeinden, vor allem Etappen der Trennungsgeschichte zwischen entstehendem Christentum und sich neubildendem (rabbinischen) Judentum. Die Verlagerung der Schuldzuweisung vom ältesten Evangelium (Markus) bis zum jüngsten (Johannes) wird so verständlich: Der zunehmenden Entlastung des Pilatus entspricht die wachsende Belastung der jüdischen Seite.
Exklusivität der Heilsaussagen
Die heutige kritische Wahrnehmung der Passionsgeschichte versteht ihre judenfeindlichen Spitzen konsequent historisch und literarisch, gerichtet auf ihre sprachliche Form und ihren historischen Ort, also als zeitgebundene Polemik, unter Ausschluss von Typisierung und Generalisierung. Das war zu Bachs Zeiten ganz anders: Indirekt judenfeindliche Töne verbergen sich in den Chorälen und „freien Stücken“ der Passionen Bachs. Ihnen liegen kirchliche Traditionen aus Zeiten zugrunde, in denen sich die Machtverhältnisse zwischen Juden und Christen längst umgekehrt hatten. Die Choräle, verwurzelt in der lutherischen Theologie des 17. Jahrhunderts, deuten die Passion Jesu als stellvertretendes Sühneleiden, exklusiv zugunsten der Christen. Exklusivität der Heilsaussagen und Aneignung alttestamentlicher Traditionen zu deren Entfaltung, konstituieren indirekt judenfeindliche Töne. Sie zu identifizieren, setzt kirchengeschichtliche Kenntnisse voraus.
Für Wahrnehmung und Wirkung der Matthäuspassion von Bach ist entscheidend, wie die verschiedenen Texte, die unheilvolle „Historie“ und ihr heilvoller „Nutz und Brauch“ miteinander vermittelt werden.
Bei seinem theologischen Lehrmeister Martin Luther konnte Bach eine Antwort findet: In seinem „Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi“ von 1519 klagt Luther zwar die Christen als diejenigen an, die durch ihre „Sünde Gott seinen Sohn erwürgt und gekreuzigt“ hätten; zugleich hält er aber an der „Historie“ fest, dass es die Juden getan und so den Christen als „deiner Sünde Diener“ gedient hätten, „wiewohl Gott sie gerichtet und vertrieben hat“. Sofern Bach auch hier Luther gefolgt ist, schafft dessen Verknüpfung der gegensätzlichen Aussagen und Perspektiven sowie deren musikalischer Realisierungen den Zusammenklang des ganzen Werkes.
Die musikalische Vermittlung geschieht durch scharfe Gegensätze der Tonsprache in den aggressiven Judenchören und in den eingängigen Chorälen und freien Stücken. Das eindrücklichste Beispiel dafür bietet die entscheidende Szene Matthäus 27,15-26. Pilatus „wäscht seine Hände in Unschuld“, das „ganze Volk“ übernimmt die alleinige Verantwortung in Worten, die auf Josua 2,19 und Jeremia 26,15 anspielen - dies gilt in der Bibelwissenschaft gemeinhin als Zeichen für spätere Überlieferungsbildung. Traditionell wird der Satz „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“ aus Matthäus 27, 25 als „Selbstverfluchung“ verstanden, und zwar für ewig. In seiner musikalischen Umsetzung lässt Bach das mörderische, verworfene Judentum geradezu geifern -, im Choral „Wie wunderbarlich ist doch diese Strafe“, in dem Arioso „Er hat uns allen wohlgetan“ und der Arie „Aus Liebe will mein Heiland sterben“dagegen das dankbare, erlöste Christentum überirdisch schön singen.
Im 17. Jahrhundert bezogen lutherische Theologen Matthäus 27,25 auch auf die Christen, aber zu ihrer „Versöhnung“ und Erlösung und nicht „zur Rache“ wie für die Juden. Im gleichen Sinn deutete Renate Steiger Bachs musikalische Realisierung unter Verweis auf die im Chorsatz enthaltene Zahlensymbolik: siebzig Mal erklingen die Worte „über uns und unsere Kinder“, vierzehn mal „sein Blut“. Die Zahl Siebzig deute auf die Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 nach Christus, die Zahl vierzehn auf den 14. Nisan, „den ersten Tag der süßen Brot“ (Matthäus 26,17), also auf die Einsetzung des Abendmahls. Hinzu kommen motivische Anklänge auf „die Opferschale“ in der nachfolgenden Altarie, in der es heißt: „Können Tränen meiner Wangen nichts erlangen,/ o, so nehmt mein Herz hinein. / Aber lasst es bei den Fluten, / wenn die Wunden milde bluten, /auch die Opferschale sein“. Damit, so Steiger, sei „die Selbstverfluchung des Volkes (.) aufgehoben und hineingenommen in die Heilsbedeutung des Blutes Jesu“.
Die musikalische Realisierung der Zahlensymbolik ist allerdings in den Noten verborgen und enthüllt sich erst sorgfältigem Studium; der Text dagegen ist unmittelbar vernehmbar. Alles hängt von dem Bewusstsein der Aufführenden und der Aufklärung der Hörenden ab. Ohne sie wird das traditionelle Verständnis des Chorsatzes als „Selbstverfluchung“ des „ganzen“ jüdischen Volkes fortleben.
Seit ihrer Wiederaufführung durch Felix Mendelssohn-Bartholdy im Jahre 1829 bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die Matthäuspassion in einem judenfeindlichen Klima und auch selbst judenfeindlich gehört, je nach den politischen und gesellschaftlichen Wahrnehmungsbedingungen unterschiedlich stark, nach persönlichen Prägungen und der Vertrautheit mit der kirchlichen Tradition, in der die Matthäuspassion verwurzelt ist.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts trat das Werk seinen Siegeszug durch die Konzertsäle an, also in der Zeit, als sich Antisemitismus und Nationalismus einander durchdringend ausbreiteten. Hinzu kam der Einfluss Richard Wagners: Er beförderte die Verbreitung der Matthäuspassion, aber auch ihre judenfeindliche Aufnahme und die Erfüllung einer religiösen Ersatzfunktion gegenüber der fortschreitenden Entkirchlichung der Gesellschaft.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstärkten der Erste Weltkrieg und seine Nachwirkungen den Antisemitismus, bis er im „Dritten Reich“ Staatsdoktrin wurde. Je mehr er sich ausbreitete und durchsetzte, und zwar in allen gesellschaftlichen Schichten, desto mehr nahm er alle überkommenen Ausprägungen von Judenfeindschaft in sich auf. Im gleichen Maß beherrschte er immer mehr den Wahrnehmungshorizont der Matthäuspassion.
Im Kirchenkampf zwischen 1933 und 1945 wurde die Trennung zwischen „Antisemitismus“ und „Antijudaismus“ zum Unterscheidungsmerkmal zwischen der „Bekennenden Kirche“ (BK) und den NS-Machthabern sowie deren kirchlichen Anhängern. So entschieden jene den staatlich verordneten Antisemitismus verwarfen, so entschieden hielt sie (die BK) an der überkommenen religiös begründeten Judenfeindschaft fest, auch die von ihr bestimmte Kirchenmusik.
Nach 1945 entfiel der antisemitische Wahrnehmungshorizont - zumindest offiziell. Die Trennung von „Antisemitismus“ und „Antijudaismus“ wirkte als Erbe des Kirchenkampfes jedoch fort. Ihre entlastende Funktion konnte sie in Kirche und Kirchenmusik weiter ausüben und religiös begründete Judenfeindschaft am Leben halten, auch für die Wahrnehmung und Wirkung der Matthäuspassion.
Scharfe musikalische Gegensätze
Das änderte sich erst in den Siebziger- und Achtzigerjahren, als Kirchen sich auf den Weg zu „Umkehr und Erneuerung“ ihres Verhältnisses zum jüdischen Volk machten, als erste die Evangelische Kirche im Rheinland mit ihrem Synodalbeschluss „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ im Jahre 1980. Zögerlich wurden auch die Passionen Bachs in den Prozess einbezogen, ablesbar an Versuchen, durch Einführungsveranstaltungen, in Programmheften, auch durch Einfügungen zeitgenössischer Texte alle Beteiligten über das judenfeindliche Erbe der Bachschen Passionen, ihrer Wahrnehmungs- und Wirkungsgeschichte aufzuklären und diese in neue Bahnen zu lenken.
Heute dürften zumal kirchenferne Bewunderer der Matthäuspassion die direkt judenfeindlichen Spitzen in den Bibeltexten und ihrer musikalischen Realisierung auch direkt hören; die indirekt judenfeindlichen in den Chorälen und freien Stücken bleiben ihnen verborgen, solange ihnen die nötigen Kenntnisse der zugrunde liegenden Traditionen fremd sind, und zwar umso mehr, als sie die Musik ganz gefangen nimmt. Die scharfen musikalischen Gegensätze zwischen den aggressiven Judenchören und den wohlklingenden Chorälen und freien Stücken hören alle; nicht alle aber stolpern darüber. Allerdings könnte das in den letzteren schlummernde judenfeindliche Potential jeder Zeit aktiviert werden. In keinem Fall aber können „Nutz und Brauch“ (Luther), das heißt die existenzielle Zueignung der Passion, exklusiv den Christen die direkt judenfeindlichen Kräfte der „Historie“ kompensieren.
Umso mehr ist Aufklärung geboten, vor allem durch konsequent geschichtliches Verstehen der Passionsgeschichte, aber auch der Choräle und freien Stücke: Sie sind als zeitbedingt und zeitgebunden zu verstehen. So können sie von ihren judenfeindlichen Erbstücken befreit und neue Seiten in der Geschichte ihrer Wahrnehmung und Wirkung aufgeschlagen werden.
Literatur
Johann Michael Schmidt: Die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach. Zur Geschichte ihrer religiösen und politischen Wahrnehmung und Wirkung. Kohlhammer-Verlag, Stuttgart, 2. Auflage 2014, Euro 25,99. Das Buch ist zurzeit nur als E-Book und pdf erhältlich. Eine dritte Auflage als Druck erscheint in diesem Jahr bei der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig.
Johann Michael Schmidt