Getrübtes Urteilsvermögen

Das Reformationsjubiläum als Gradmesser einer theologischen Orientierungskrise
Reformationstag 2016 in Lund: Papst Franziskus, der Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes Martin Junge und die schwedische Erzbischöfin Antje Jackelén (von links). Foto: Reuters/ Max Rossi
Reformationstag 2016 in Lund: Papst Franziskus, der Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes Martin Junge und die schwedische Erzbischöfin Antje Jackelén (von links). Foto: Reuters/ Max Rossi
Mit einer Ökumene der Bilder zwischen Lutheranern und Katholiken begann in Lund das Jahr des Reformationsjubiläums. Doch all das wird im Verhältnis der Konfessionen keinen Fortschritt bringen, fürchtet der in Wien lehrende Systematische Theologe Ulrich Körtner. Vielmehr werde dadurch der in der Reformation errungene neue protestantische Kirchenbegriff verraten.

Was für Bilder! Papst Franziskus feiert gemeinsam mit Repräsentanten des Lutherischen Weltbundes (LWB) im Dom von Lund einen Gottesdienst zum Reformationsfest - pardon, Reformationsgedenken. Unter ihnen eine Frau, Antje Jackelén, die Erzbischöfin der Schwedischen Kirche, die der Papst später wie die übrigen Mitwirkenden herzlich umarmt. Alle sind gleich in liturgischem Weiß gewandet und tragen eine rote Stola, so dass man bei flüchtigem Hinsehen gar nicht mehr unterscheiden kann, wer nun evangelisch oder katholisch ist. Schnell ist das Wort „historisch“ bei der Hand. Wie nahe sich doch die seit der Reformation getrennten Kirchen gekommen sind!

Höhepunkt des Reformationsgedenkens in Lund am 31. Oktober 2016 ist eine Gemeinsame Erklärung. So eine gab es ja schon 1999 zur Rechtfertigungslehre. Dankbar blicken der Papst und der Präsident des LWB, Bischof Munib Younan, auf 50 Jahre intensiven bilateralen Dialog, in dem Lutheraner und Katholiken gelernt haben, dass sie inzwischen mehr verbindet als trennt. Zwar ist auch von verbleibenden Hindernissen auf dem Weg zur „vollen Einheit“ die Rede, aber man zeigt sich zuversichtlich, diese mit Gottes Hilfe zu beseitigen. Da wäre zum Beispiel die Tatsache, dass es keine gemeinsame Eucharistiefeier gibt - und daran wird sich auch nach dem Event von Lund so schnell nichts ändern. Dass man es in der Gemeinsamen Erklärung peinlichst vermeidet, von den Lutheranern als Kirche zu sprechen - geschenkt. Hauptsache man kommt sich näher und näher im Glauben an Christus - wie Parallelen, die sich im Unendlichen schneiden - und kann „die große Reise, die vor uns liegt“ mit lauter guten Vorsätzen, „unerschrocken und schöpferisch, freudig und hoffnungsvoll“ fortsetzen.

Ein Ereignis von historischer Tragweite? Dass der Papst diesen Gottesdienst mitgefeiert hat, soll man nicht geringschätzen, wenn man in Rechnung stellt, dass schon diese symbolische Geste an die Schmerzgrenze der Hardliner im Vatikan gegangen sein dürfte, allen voran beim Präfekten der Glaubenskongregation Gerhard Ludwig Müller, aber auch bei Kurienkardinal Kurt Koch. Beide haben im Vorfeld moniert, man könne doch nicht die Sünde der Spaltung feiern. Aber welchen substanziellen Fortschritt hat der Papstbesuch in Lund - nüchtern betrachtet - für die Ökumene gebracht? Antwort: Der ökumenische Berg hat gewaltig gekreißt und dann doch nur ein Mäuslein geboren.

Meister der Symbole

Franziskus hat sich einmal mehr als Meister der Symbole und Gesten gezeigt. Aber echte Geschenke hatte er nicht im Gepäck. Von der Anerkennung der Lutheraner als Kirche im Vollsinn des Wortes ist man unverändert weit entfernt, von der Anerkennung der anderen aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen ganz zu schweigen. Der LWB mag sich vielleicht als Speerspitze der Konsensökumene fühlen, aber dass die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ mit einem schweren Geburtsfehler behaftet war, der bis heute fortwirkt, will den Verantwortlichen bis heute nicht einleuchten. In dieser Hinsicht ist offenbar auch das theologische Urteilsvermögen der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen getrübt, die angekündigt hat, sie wolle im Sommer der Gemeinsamen Erklärung beitreten.

Der Kardinalfehler bestand darin, die Auswirkungen der reformatorischen Rechtfertigungslehre auf das Kirchenverständnis nicht mitzubedenken. „Das jedoch ist entscheidend“, wie Johann Hinrich Claussen, der Kulturbeauftragte der EKD, in seinem lesenswerten Buch „Reformation. Die 95 wichtigsten Fragen“ treffend bemerkt. „Denn epochal bedeutsam wurde Luthers Rechtfertigungslehre, weil sie den Grund für eine anders geartete Kirche legte.“

Friedrich Schleiermacher hat den Unterschied zwischen evangelischem und römisch-katholischem Kirchenbegriff so auf den Punkt gebracht: Während nach katholischer Lehre das Verhältnis der Glaubenden zu Christus abhängig von ihrem Verhältnis zur Kirche ist, macht der Protestantismus das Verhältnis des Einzelnen zur Kirche von seinem Verhältnis zu Christus abhängig. Diese Beschreibung des Gegensatzes hat ihre Gültigkeit bis heute nicht verloren. Und weil das evangelische Kirchenverständnis mit dem römisch-katholischen nicht vereinbar ist, nimmt es nicht wunder, dass die Gemeinsame Erklärung ekklesiologisch - also in der dogmatischen Lehre von der Kirche - und kirchenpolitisch folgenlos geblieben ist.

Lutheraner mögen das anders sehen, und es dürfte wohl kein Zufall sein, dass der Papst zum Reformationsjubiläum nicht nach Deutschland gereist ist, sondern nach Schweden. Nicht nur, weil der Lutherische Weltbund 1947 in Lund gegründet wurde, sondern auch deshalb, weil die Schwedische Kirche neben den anderen lutherischen Kirchen Skandinaviens zur Porvoo-Gemeinschaft gehört. Das ist eine Gemeinschaft lutherischer und anglikanischer Kirchen, die der Auffassung sind, das historische Bischofsamt in angeblich lückenloser apostolischer Sukzession gehöre zu den notwendigen Grundlagen der Kirche. Dass die beteiligten lutherischen Kirchen mit der Übernahme dieser katholischen und anglikanischen Denkfigur im Grunde den aus der Reformation, der Rechtfertigungslehre und der mit ihr verbundenen Lehre vom Priestertum aller Gläubigen hervorgegangenen Kirchenbegriff dementieren, weisen sie entschieden zurück. Aber es ist so.

Theologisch rächt sich, dass die EKD das Thema Kirche in ihrer Lutherdekade ausgespart hat. Dabei wäre gerade dieses Thema 500 Jahre nach Luthers Thesenanschlag von zentraler Bedeutung. Wozu sind heute die evangelischen Kirchen da? Wozu braucht der persönliche Glaube auch nach evangelischem Verständnis die Kirche, und zwar in der Gestalt, die sich seit der Reformation entwickelt hat? Die reformatorische Idee vom Priestertum aller Getauften setzt die Existenz und Notwendigkeit der Kirche auch nach evangelischem Verständnis voraus. Doch beides versteht sich längst nicht mehr von selbst. Die Rechtfertigungsbotschaft richtet sich an den Menschen, der, modern gesprochen, um seine Anerkennung kämpft. Existenzielle und soziale Konflikte erklären sich nicht allein aus dem Kampf um Selbsterhaltung, sondern auch aus dem Kampf um Anerkennung - so der Philosoph Axel Honneth. Gesellschaftliche Konflikte lassen sich daher nicht auf ökonomische reduzieren, sondern sind immer auch moralische und - wie wir in jüngster Zeit wieder sehen - religiöse. Im auch massenmedial ausgetragenen Kampf um Anerkennung, Wertschätzung und Aufmerksamkeit werden die Menschen von der Angst vor der Bedeutungslosigkeit getrieben, die der Psychoanalytiker Erich Fromm beschrieben hat.

Nach Ansicht Georg Wilhelm Friedrich Hegels ergibt sich aus dem Kampf der Subjekte um wechselseitige Anerkennung die innergesellschaftliche Nötigung zur Etablierung von freiheitsverbürgenden Institutionen. Auch nach reformatorischem Verständnis bilden Freiheit und Institutionen nicht unbedingt einen Gegensatz. Auch der Glaube bedarf der Institutionen, weil das glaubengründende Evangelium auf Kommunikation angewiesen ist und der Glaube nur in Gemeinschaft mit anderen gelebt werden kann. Allerdings ist stets zu fragen, inwiefern Institutionen die menschliche Freiheit - auch die des Glaubens - fördern oder hindern. So folgt aus der Rechtfertigungslehre zwar eine beständige Kritik bestehender kirchlicher Verhältnisse und Strukturen - ecclesia semper reformanda -, nicht aber eine grundsätzliche Ablehnung der Kirche. Die geschichtlich und empirisch existierenden Kirchen sind jedoch daraufhin zu befragen, ob sie ihrem Auftrag gerecht werden, Institutionen der Freiheit zu sein, die aus dem Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen kommt.

Im Grunde hat schon die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre das Ende der klassischen Konsensökumene eingeläutet. Seit geraumer Zeit vollzieht sich ein Paradigmenwechsel von der Konsens- zur Differenzökumene. Wem das zu abstrakt klingt, der mag die Formel des früheren EKD-Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber von der „Ökumene der Profile“ bevorzugen. Von dieser ist allerdings weder im LWB noch im Mutterland der Reformation und bei den derzeitigen Repräsentanten der EKD die Rede. Sie verträgt sich angeblich schlecht mit der Absicht, das Reformationsjubiläum ganz und gar ökumenisch zu begehen. Statt einer Ökumene der Profile erleben wir eine der Profillosigkeit, die zwischen einer plumpen Vereinnahmung Luthers für theologische Trivialitäten und einer politisch korrekten Distanzierung vom Wittenberger Reformator, zum Beispiel von seinen judenfeindlichen Äußerungen, schwankt.

Der Ratsvorsitzende der EKD und der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz wollen den Weg zur „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ beschreiten und fühlen sich dabei durch Papst Franziskus ermutigt. Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich, denn die offizielle Position der römischen Kirche lautet unverändert, dass das Modell der versöhnten Verschiedenheit für sie als tragfähiges Konzept kirchlicher Einheit unannehmbar ist. Und auf das Wort des Papstes sollte man in dieser Frage ohnehin nicht zuviel geben, zeichnen sich doch seine bisherigen Verlautbarungen und seine vielen spontanen Wortmeldungen durch einen notorischen Mangel an Präzision aus, der katholischen Klerikern und Theologen so manches Kopfzerbrechen bereitet.

Als Protestant mag man ja an der Protestantisierung der römischen Kirche durch den jetzigen Papst seine klammheimliche Freude habe, aber in welche Zerreißproben das seine Kirche noch führen wird, sei dahin gestellt, und ob diese für die Ökumene am Ende ein Segen sind, wird sich erweisen.

500 Jahre nach der Reformation zieht der Historiker Volker Reinhardt in seinem glänzend geschriebenen Buch „Luther, der Ketzer“ eine nüchterne Bilanz, was das reformatorische Erbe der evangelischen Kirchen von heute betrifft: Im Grunde sei es längst begraben. Luthers und Calvins Lehre von der Erwählung der Glaubenden und der Verwerfung derer, die nicht glauben, verstoße „gegen jede correctness, also wird diese sperrige Seite“ der Rechtfertigungslehre „ausgeblendet, je geradezu ins Gegenteil verkehrt: Jede und jeder kommt ins Paradies“. Luthers anthropologischer Pessimismus, der die Konsequenz seiner radikalen Sündenlehre ist, sei „vom heutigen Luthertum, jedenfalls dem europäischen, in sozialpolitischen Aktionismus, in das Streben nach mehr Gerechtigkeit im Diesseits, umgeschlagen“, das mit Luther kaum etwas zu tun hat. „Auf diese Weise hat sich das heutige Luthertum, ohne es zu wollen (und vielleicht sogar oft, ohne es zu wissen), katholischen Vorstellungen von der Kooperation des Menschen mit der göttlichen Gnade und sogar der Werkgerechtigkeit stillschweigend angenähert.“ Und diese Diagnose muss man auch für das Reformiertentum stellen.

In Schweigen gehüllt

Kundige Beobachter des Treibens rund um das Reformationsjubiläum, wie Reinhard Bingener von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, halten der Zunft der systematischen Theologen vor, das Feld den Historikern zu überlassen und sich über die Gegenwartsrelevanz reformatorischer Theologie in Schweigen zu hüllen. Die Gründe für den von Bingener beklagten Totalausfall der evangelischen Dogmatik liegen in dem theologiepolitischen Umbruch, der sich seit mehreren Jahrzehnten vollzieht. Vorbei sind die Zeiten, in denen die Dialektische Theologie und die Lutherrenaissance, die beide nach dem ersten Weltkrieg und also in der Zeit seit dem Reformationsjubiläum 1917, in der Lutherforschung und in der Systematischen Theologie den Ton angaben. Eine neue Theologengeneration kehrt entschlossen zum Erbe der liberalen Theologie und des Kulturprotestantismus zurück. Die theologischen Vorbilder heißen nicht mehr Karl Barth, Rudolf Bultmann und Karl Holl, sondern Ernst Troeltsch, Adolf von Harnack und Emanuel Hirsch.

Im Lutherjahr 1983 wurde die evangelische Theologie im deutschen Sprachraum von Gerhard Ebelings Lutherdeutung beherrscht. Seine gemeinsam mit Karin Bornkamm herausgegebene Luther-Edition im Insel Verlag, mit ihren allgemeinverständlichen Einführungen und Hinweisen für den Einsatz in Kirchengemeinden, ist bis heute unübertroffen. Doch Ebelings Lutherinterpretation stößt inzwischen weithin auf Kritik. Auch der Name Eberhard Jüngel hat für die junge Theologengeneration an Glanz verloren. In Johann Hinrich Claussens oben erwähntem Buch tauchen die Namen von Barth, Bultmann, Ebeling und Jüngel nicht einmal auf.

Und die Frage nach der bleibenden Aktualität reformatorischer Theologie wird als unangemessen zurückgewiesen.

Die heutigen Vertreter eines liberalen Protestantismus betonen die Fremdheit Luthers und die Schwierigkeiten, die sie mit seinem Erbe haben. Das ist ein Ausdruck intellektueller Redlichkeit, die man mehr schätzen mag als die billigen Aktualisierungsversuche der Kirchen im Jubiläumsjahr. Könnte es aber nicht sein, dass gerade in der Fremdheit Luthers und der Theologie der übrigen großen Reformatoren ein kritisches Potenzial für Theologie und Kirche liegt, das es neu zu heben gilt? Ist es nicht an der Zeit, die Frage nach Gott auf elementare Weise ganz neu zu stellen, statt sich in Theorien über gelebte Religion und ihre Vielspältigkeit zu ergehen?

Im Jubiläumsjahr ist dazu nicht mehr viel zu erwarten. Die Festprogramme und Liturgien für politisch korrekte Bußgottesdienste sind längst geschrieben und alle Messen gesungen. Richten wir lieber den Blick auf das Jahr 2018 und die Zeit danach, wenn der Weltjahrmarkt in Wittenberg seine Tore geschlossen hat. Dann braucht es eine selbstkritische Bestandsaufnahme des Protestantismus in theologisch dürftiger Zeit.

Ulrich H.J. Körtner

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