Geheilte Biographien

Klartext
Foto: privat
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Die Gedanken zu den Sonntagspredigten im Februar und März stammen von Thomas Zeitler. Er ist Pfarrer in Nürnberg.

Viele Helfer

SEXAGESIMÄ, 19. FEBRUAR 2017

Wenn sie aber die Frucht gebracht hat, so schickt er alsbald die Sichel hin; denn die Ernte ist da. (Markus 4, 29)

Unter Großstädtern gibt es den neuen Trend, sich mit gesunden Biolebensmitteln zu versorgen und das Konzept einer „Solidarischen Landwirtschaft“, auf Englisch: Community supported agriculture, gemeinschaftsunterstützte Landwirtschaft, zu verfolgen.

Nicht nur, dass Menschen mit einem festen Monatsbeitrag das Einkommen eines Biobauernhofs der Region absichern, ist solidarisch. Und dass die so genannten Ernteteiler damit zufrieden sind, genau das unter sich aufzuteilen, was das Erntejahr hergegeben hat, mal viel Salat, mal keine Zwiebeln.

Es besteht auch die Möglichkeit, direkt am Hof mit Hand anzulegen und die Landwirte bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Vom Pflanzen und Hegen, Jäten und Hacken bis zum Ernten von Erdbeeren und Rosenkohl, Schwarzwurzeln und Roten Rüben. Mit erdigen Fingen und klumpigen Stiefeln ganz nah dran an Mutter Natur. Endlich wieder ein Gespür dafür bekommen, wie Natur funktioniert und was wann für den Menschen zu tun ist.

Jesus kannte diese Arbeitszyklen noch aus seiner unmittelbaren Lebenswelt. Er wusste: Es gibt Handlungszeiten und Wartezeiten. Und es gibt den richtigen Zeitpunkt für das eine, wie für das andere. Man muss die Saat zur rechten Zeit ausbringen. Dann aber muss man sich gedulden. Wachstum lässt sich eigentlich nicht beschleunigen, es sei denn, der ungeduldige Mensch bricht aus den Bahnen der Natur aus, düngt, heizt und mästet, um die Natur zu einer künstlichen Effizienz zu zwingen.

Aber in jedem Fall kommt der richtige Moment zur Ernte. Und den muss man erkennen und nutzen. Zwischen Unreife und Überreife. In Empfang nehmen, was nährt. Und so ist es mit dem Reich Gottes.

Dann braucht es wohl viel Achtsamkeit, Sensibilität für das richtige Tun zur richtigen Zeit. Es braucht Zeiten der Tatkraft und Geschick beim Säen, dem Anbahnen neuen Lebens. Und Entschiedenheit zu sagen: Jetzt ist der Zeitpunkt der Ernte, jetzt müssen Veränderungen sichtbar und greifbar und erlebbar werden.

Martin Luther scheint mir eher ein Mann der Saat und der Geduld gewesen zu sein. Er war stolz darauf, dass die Worte, die er säte, wie von selbst wachsend die Kirche veränderten, während er sich in Wittenberg mit den Kollegen ein gutes Bier schmecken ließ.

Dass einen Teil der Ernte die Fürsten einfuhren, die mit der Reformation ihre eigene Macht ausbauen konnten, hat ihn dabei nicht weiter gestört. Thomas Müntzer dagegen, der unglückliche Feldprediger des niedergeschlagenen Bauernaufstands, führte oft die Worte von der Zeit der Ernte und der Sichel im Mund. Er gehört zu den ungeduldigen Reformatoren, die die Früchte des gesellschaftlichen Wandels hin zu mehr Gleichheit und Gerechtigkeit schnell in Händen halten wollte. Vielleicht zu schnell.

Wann säen, wann warten, wann ernten? Von der Community supported agriculture kann sich die Kirche vielleicht abschauen, wie eine ganze Gemeinschaft die Verantwortung dafür übernimmt, dass alle, die Nutznießer sind, auch bereit sind, sich zu beteiligen. Und dass dann, wenn die Zeit reif ist, auch möglichst viele zur Stelle sind, mit Hand anzulegen, mit ihren Hoffnungen ernst zu machen und für ein gutes Leben für alle einzutreten.

Zwei in einer Brust

ESTOMIHI, 26. FEBRUAR 2017

Marta aber machte sich viel zu schaffen, ihm zu dienen. Und sie trat hinzu und sprach: Herr, fragst du nicht danach, dass mich meine Schwester lässt allein dienen? Sage ihr doch, dass sie mir helfen soll! (Lukas 10, 40)

Maria und Marta“ wird die Geschichte von den beiden ungleichen Schwestern immer überschrieben. Maria, die Patente, Handelnde, Sorgende, Leibliche. Und: Marta, die Hörende, Ruhige, Sorglose, Geistliche.

So wie wir die Geschichte gewöhnlich lesen, sollte sie vielleicht besser „Maria oder Marta“ heißen. Denn wir verstehen sie ganz vom Wort Jesu her als Entscheidung zwischen zwei konkurrierenden Prinzipien: Handeln oder Hören, Leib oder Geist, Praxis oder Theorie, Kampf oder Kontemplation.

Die einen freuen sich darüber, dass die stille, fromme Maria den Sieg davonträgt, und die anderen ärgern sich darüber, dass die aufopferungsvolle Care-Arbeit der Marta so wenig geachtet und honoriert wird.

Aber beide Frauen dürfen nicht allein als Repräsentantinnen äußerer Typologien angesehen werden, sondern auch als die verschiedenen Anteile des eigenen Seelenhaushalts: Wie viel Marta ist in mir, wie viel an Helfersyndrom, wie viel Frust über Routine- und Reproduktionsarbeit, wie viel Weltverbesserungsdrang? Und wie viel Maria, also: wie viel Ruhebedürfnis, Neugier auf neue Sichtweisen, Auftanken an der Quelle, auch erlaubte Selbstvergessenheit?

In den englischsprachigen Länden hat sich in den vergangenen Jahren ein interessanter Begriff etabliert: Spiritual Activism, „Spiritueller Aktivismus“. Und da wird gefragt: Wie verhält sich ein politischer Aktivismus, der Impulse setzen will, zu mehr Gerechtigkeit, friedlichem Miteinander und umweltgerechtem Lebensstil, zu den Dimensionen der Spiritualität, dem Bezug zu Gott und dem Ganzen unseres Lebens, der sich nicht gleich verwerten lässt?

Die spirituellen Aktivisten sind überzeugt: Nur ein spirituell fundiertes Engagement besitzt Klarheit über seinen Ort im Ganzen, Ziel und Möglichkeiten des eigenen Handelns und die tragenden Kräfte, die Hoffnung geben - und Halt in zähen Auseinandersetzungen. Maria und Marta sind eben, eigentlich, nicht zu trennen. Vielmehr gehören sie zusammen.

In der Geschichte wünscht Marta, dass Maria ihr hilft, indem sie das Gleiche tut wie sie. Als vermeintliche Entlastung oder Verdopplung der aktivistischen Kräfte. Aber wenn Jesus Maria vor Marta in Schutz nimmt, macht er deutlich: Maria dient ihrer Schwester am meisten, wenn sie ihr Eigenes, die Spiritualität behält und in das Doppel- und Wechselspiel einbringt. Nicht als äußerer Gegensatz von Kampf und Kontemplation, sondern als Modell eines spirituell fundierten Aktivismus, der Christen die Erkenntnis ermöglicht: Ich bin beide, Maria und Marta. Und sie dienen einander gegenseitig, sich ergänzend.

Fest der Narren

INVOKAVIT, 5. MÄRZ 2017

Und Adam sprach zu Gott: Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich. (1. Mose 3, 10)

Das Paradies gibt es übrigens noch. Es ist ein Stück Land in den südlichen Vogesen. Es trägt von alters her den Namen „Folleterre“, Land der Verrückten. Und ein europaweites Netzwerk etwas verrückt-queerer Menschen hat sich dieses Land als Ort für eine gelebte Utopie erkoren. Sanctuary, Heiligtum, nennen sie dieses Land. Und sich selber „Radical Fairies“, radikale Elfen oder Tunten, je nachdem wie man diesen englischen Begriff gewichtet und übersetzt.

Zugegeben, es geht in diesem Paradies nicht sehr christlich zu. Die Fairies treffen sich bevorzugt zu Sonnwendfeiern, experimentieren mit heidnischen Riten und bauen Altäre unter den Bäumen, denen die sich verbunden fühlen. Und viele springen nackt umher, so wie Gott sie schuf. Oder in extravaganten Kostümen und Frauenkleidern, wie es bei Polittunten gute Tradition hat.

In den Kirchen ist das undenkbar. Nach dem Sündenfall zu leben, aus dem Paradies vertrieben zu sein, bedeutet traditionell: Schurze tragen. Sich verstecken. Sich schämen. Denn die Frucht vom Baum der Erkenntnis brachte vor allem eins: das Bewusstsein der eigenen Nacktheit und Unvollkommenheit. So müht sich die Menschheit damit ab, sich hinter Feigenblätter und in Gebüschen zu verbergen, weil sie aus der paradiesischen Unschuld herausgefallen ist. Und wie schnell werden Schurze zu Panzern und Masken, die im Konkurrenzkampf der eigenen Unverletzlichkeit dienen.

Bei den Fairies ist das anders: Sie müssen im normalen Leben schon genug von ihrer wahren Natur verstecken oder Anfeindungen in Kauf nehmen. Sie genießen es einfach, die Feigenblätter abzulegen und einen Ort zu haben, wo jede und jeder endlich unverstellt er oder sie selbst sein kann. „Willkommen zu Haus!“ lautet deshalb der Begrüßungsruf an alle, auch an die, die noch nie einen Fuß in das utopische Land gesetzt haben. Ein zentrales Ritual ist der „heart circle“, im Kreis zu sitzen und frei aus dem Herzen heraus zu erzählen, was einen bewegt, ohne dabei Angst haben zu müssen, dass das, was man offenbart, gegen einen verwendet wird. Und jedes Treffen hat einen Höhepunkt in der „No-Talent-Show“, die ohne Leistungsdruck dazu einlädt, die eigenen unvollkommenen Fähigkeiten auf der Bühne zu entfalten.

Paradiesische Zustände? Zumindest eine Provokation für Christen, denen es nicht leicht gelingt, einen solchen Abglanz des Gartens Eden aufscheinen zu lassen. Aber im frühen Christentum gab es doch ein „Fest der Narren“? Vielleicht sollten wir daran neu erinnern. Und die Risse in der Mauer um das Paradies erkunden.

Radikaler Wandel

REMINISZERE, 12. MÄRZ 2017

Die Leute von Ninive werden auftreten beim Jüngsten Gericht mit diesem Geschlecht und werden es verdammen; denn sie taten Buße nach der Predigt des Jona. Und siehe, hier ist mehr als Jona. (Matthäus 12, 41)

Jesus trotzt. Ja, er ist sauer. Weil er verkannt wird. Die Leute wollen Jesus sehen, damit sie ihn aufgrund der Wunder bewundern können.

Aber gerade Bewunderung will Jesus nicht: Er ist kein Guru, sondern ein Prophet. Wie Jona. Und Rabbi. Weiser als Salomo. Was sich Jesus wünscht, ist Umkehr wie bei den Leuten von Ninive. Und Suche nach Weisheit wie bei der Königin von Saba. Er will niemand um sich, der nur zum Gaffen kommt. Die Menschen sollen vielmehr bereit sein, sich zu ändern, in Kopf und Herz und mit ihren Händen. Den radikalen Lebens-Wandel, den Jesus fordert, kann ein Zauberkunststück nicht bewirken. Eigentlich würde es genügen, wenn Menschen seiner Predigt aufmerksam lauschen würden.

Doch dann gibt es bei Jesus doch Zeichen. Vorzeichen des Heils. Von geheilten Körpern. Geheilten Biographien. Und geheilten Gemeinschaften. Und sein größtes Zeichen: dass er Kreuz und Tod überlebt. Nicht ganz heil. Es bleiben Spuren. Und auch sie sind Zeichen einer Botschaft. Jesus vollbringt am Kreuz keine Zauberkunststückchen. Er zaubert keine Legionen aus dem Hut. Sein Körper blutet - wirklich. Brauchen wir mehr, um weise zu werden und umzukehren?

Thomas Zeitler

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Thomas Zeitler

Thomas Zeitler ist Kulturpfarrer an der Egidienkirche in Nürnberg. Er hat 2001 den Nürnberger Queergottesdienst mitbegründet und engagiert sich im lokalen Bündnis gegen Trans- und Homophobie.


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