Aus Anlass des Reformationsjubiläums legt Werner Thiede ein hilfreiches Debattenbuch vor. Er fragt nach dem Zustand der Evangelischen Kirche. Er sieht eine drohende Zerreißprobe auf die Kirche zukommen. Das Reformationsjubiläum sei für die evangelische Kirche kaum Anlass zum Jubel, wohl aber einer zur Besinnung auf ihre Identität. Drei divergierende Strömungen des Protestantismus nennt Thiede: eine konservative, eine liberale und eine wachsende passive Mitte. Dabei habe in den vergangenen Jahrzehnten der liberale Flügel eine gewisse Vorherrschaft erlangt, sowohl in der Universitätstheologie als auch in der kirchlichen Hierarchie. Das Reformationsgedenken sei der richtige Zeitpunkt für den Dialog zwischen den verschiedenen Strömungen.
Angesichts starker Anpassung an „aufklärerische“ Kritik müsse man die Schattenseiten sehen. Thiede benennt die nach wie vor starke Schrumpfung der Kirche. Der Negativtrend sei nicht allein demographisch zu erklären. Stärker als der Katholizismus habe in der evangelischen Kirche mit der Aufnahme moderner Weltdeutungsangebote das religiöse Bindungspotenzial abgenommen. Vom missionarischen Auftrag Jesu und der Einladung an Fernstehende sei in den Landeskirchen kaum etwas zu bemerken.
Thiede vermisst den praktischen Rang der überkommenen Bekenntnisse der evangelischen Kirche. Die apostolischen und reformatorischen Zeugnisse seien Einladungen zum Einstimmen in eine bestimmte Beschreibung des Glaubens. Hier seien Brüche entstanden, die Vielen keine Identifizierung mehr ermöglichten.
Die Säkularisierung habe der Kirche den Boden entzogen. In den seichten Gewässern des Säkularismus brauche die evangelische Kirche wieder einen klaren Kurs. Sie habe allen Grund zu kritischer Selbstvergewisserung. Denn es könne ja sein, dass die Konservativen in Kirche und Theologie mit ihren Mahnungen in mancherlei Hinsicht eher Recht haben, als den Liberalen lieb ist.
Thiede weist im ersten Teil seines theologisch gründlich geschriebenen Buches mit wohltuender Sachlichkeit auf die Herausforderungen hin, denen sich die Kirche zu stellen hat. Er fordert, die unterschiedlichen Strömungen wahrzunehmen, die dem Schiff „Evangelische Kirche“ gefährlich sind. Ein neuer Kulturprotestantismus habe sich breit gemacht, in dem liberale Theologie die theologischen Grundprinzipien der Reformation, nämlich das Christus allein, die Schrift allein, die Gnade allein, der Glaube allein inhaltlich aufgeweicht oder gar aufgegeben habe. Trotz oder wegen der gemeinsamen Erklärung von 1999 würde die reformatorische Rechtfertigungslehre von vielen nicht mehr als die klare Grundlage der evangelischen Kirche betrachtet.
Im zweiten, „Vergewisserungen“ genannten Teil geht es dem Verfasser um das Kirchenverständnis Luthers, Melanchthons, Zwinglis und Calvins. Hier arbeitet er Gemeinsames und Unterschiede heraus. Gemeinsam sei die Betonung der unter Wort und Sakrament versammelten Gemeinde. Und hier, in den Ortsgemeinden, habe die Erneuerung anzusetzen. Sie sei geboten durch eine klare Bestimmung von Ordination und kirchlichem Amt. Thiede betont, dass jeder Christ zu Gott in einem priesterlichen Verhältnis stehe. Der bevollmächtigte Dienst an Wort und Sakrament bedürfe jedoch einer klaren Beauftragung an Männer und Frauen, die durch Gaben, Ausbildung und Versprechen die Kontinuität mit der Überlieferung der Botschaft gewährleisten müssten. Die Gemeinden haben so ihre Verbundenheit untereinander durch den geschwisterlichen Dienst der Visitation zu organisieren. Hier sieht Thiede unterschiedlich große Mängel in den Landeskirchen.
Am Bespiel von Taufe und Konfirmation nennt er Erneuerungsbedarf. Er hält es für die Kirche stabilisierend, wenn die Praxis der Erwachsenentaufe gestärkt und die Konfirmation nicht schon mit 14 Jahren angeboten würde. Der Vollzug solle die beabsichtigte Integration der Menschen in die Gemeinde Jesu Christi deutlicher betonen. Hier nimmt Thiede eine Diskussion aus den Siebzigerjahren auf, mit ähnlichen Argumenten und Zielen wie damals.
Die konfessionsübergreifende Feier des Abendmahls entspricht der Sehnsucht der Mehrheit in allen Konfessionen. Noch steht das Weiheverständnis der römischen und orthodoxen Kirchen dem im Wege. Einstweilen sollten sich die evangelischen Gemeinden um klare Formen mühen, damit erkennbar werde, was wo und wie geboten wird.
In einem eigenen Abschnitt wirbt Thiede um das „vergessene Sakrament“, die Beichte. Er verweist auf Luther, der angesichts der endgültigen Zueignung der in Christus gründenden Gnade wohl gewusst habe, dass kein Christ im weiteren Verlauf seines Lebens von Sünden frei sei, sondern der Buße bedürfe. Als dritten Teil formuliert Thiede seine Perspektiven für eine Erneuerung der evangelischen Kirche in 95 Thesen. Die 91. These fasst zusammen, worum es dem Autor geht: „Initiatoren, Lenker und Gestalter von besonderen Kirchenreformprozessen sollten sich an zwei grundlegenden Bedingungen ausrichten: Zum einen müssen ihre Schritte theologisch genau begründet und dabei dem Diskurs in der kirchlichen Öffentlichkeit ausgesetzt sein; zum andern sollten sie von einer spürbaren Vielzahl von Gemeinden mit ihren Pfarrerinnen und Pfarrern an der Spitze bejaht und engagiert mitgetragen werden.“
Manfred Kock