„ … auf Adlersflügeln hereingetragen“

Vor 200 Jahren wurden Reformierte und Lutheraner in Preußen vereinigt
Foto: epd/ Mathias Ernert
Foto: epd/ Mathias Ernert
Für aufmerksame Protestanten gehört zur 500-Jahrfeier der Reformation ein weiteres Jubiläum: das 200-jährige der preußischen Kirchenunion. Vielen galt diese Union als Vollendung der Reformation, weil die lutherische und die reformierte Kirche wieder zusammenfanden. An die Ereignisse erinnert der Theologe Wilhelm Hüffmeier, der von 1995 bis 2006 die evangelisch-unierte Kirchenkanzlei in Berlin leitete.

Für die Charakterisierung der preußischen Kirchenunion von 1817 prägte Julius Müller (1801–1878), einer der bedeutenden Unionstheologen des 19. Jahrhunderts, die markante Formel: „Die wahre Union ist am wenigsten etwas, was sich willkürlich machen, durch künstliche Mittel hervorbringen läßt. Von ihr kann vielmehr gesagt werden, daß sie wesentlich sich selbst voraussetzt. Man unirt sich eigentlich nur, weil man schon unirt ist.“ Längst nicht alle Theologen sahen das so. Vielmehr erzeugte die preußische Union heftigste konfessionelle Kritik und wurde Grund zur Abspaltung der so genannte Altlutheraner. Die Kritik bezog sich unter anderem auf den fehlenden Konsens in den einst trennenden Lehrfragen wie der des Abendmahls.

Noch nach dem Zweiten Weltkrieg bestritt der erste Leitende Bischof der 1948 gegründeten Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD), der bayrische Landesbischof Hans Meiser, der altpreußischen Union das Kirchesein, weil sie kein einheitliches Bekenntnis habe. Die abschätzige Rede von der „Mischmaschkirche“ machte damals ihre Runde. Doch die altpreußische Kirche (altpreußisch, weil die Kirchen der neuen Provinzen Preußens nach 1866 nicht dazu kamen) war kein Solitär. Auch in anderen Teilen Deutschlands bildeten sich im 19. Jahrhundert Unionen, in Hessen, der Pfalz, in Anhalt, Baden und Bremen.

Die Union Evangelischer Kirchen in der EKD (UEK) hat deshalb den preußischen Impuls zur Kirchenvereinigung vom Reformationsfest 1817 zum Anlass genommen, in einer Broschüre „Gemeinsam evangelisch“ an „200 Jahre lutherisch-reformierter Unionen in Deutschland“ zu erinnern. In der Johanniskirche im westfälischen Hagen, im Berliner Dom und andernorts fanden zum Gedenken an den preußischen Aufbruch zur Union größere Jubiläums-Gottesdienste statt, in Breslau, Villigst, Potsdam, Halle und Greifswald kleinere kirchengeschichtlich orientierte Veranstaltungen. Die Hauptversammlung des Reformierten Bundes (vergleiche zz 11/2017) widmete sich in Moers der Frage „200 Jahre Union – Was will die Union von den Reformierten?“ Was also geschah damals und was hat das mit dem Heute zu tun? Dazu fünf Punkte.

Erstens: Die Ersten waren die Preußen nicht. Im konfessionell stark durchmischten Herzogtum Nassau hatte eine Pfarrersynode schon im August 1817 eine Kirchenvereinigung beschlossen. In Preußen ging der Impuls auch nicht vom König Friedrich Wilhelm iii. aus. Vielmehr waren Synoden in der westfälischen Grafschaft Mark und in Berlin dem König mit Unionsinitiativen vorangegangen. Wo reformierte und lutherische Gemeinden schon länger in guter Nachbarschaft lebten, lagen Vereinigungen gleichsam in der Luft. Der fromme Friedrich Wilhelm iii., wie seine Vorfahren „summus episcopus“ der beiden evangelischen Kirchen in Preußen, plante schon seit dem Beginn seiner Regierungszeit im Jahr 1797 eine umfassende Kirchenreform. Ihr verdanken wir den 1811 eingeführten „schwarzen Talar“ und das 1817 gegründete Wittenberger Predigerseminar, beide bis heute protestantische Markenzeichen. Doch in Sachen Gottesdienst und Union zögerte der König mit der Reform, so dass er im September 1817 plötzlich unter Zugzwang geriet. Sein berühmter „Aufruf“ vom 27. September kam viel zu spät für eine landesweit abgestimmte Planung der Reformationsgottesdienste als Beginn des Prozesses der Vereinigung.

Zweitens: Obwohl „summus episcopus“ seiner evangelischen Kirchen, war der König sich bewusst, in Sachen Änderung des Bekenntnisstandes nichts verfügen zu können. Im Aufruf betonte er deshalb, die Union nicht „aufdringen … zu wollen“. Der Beitritt der Gemeinden zur Union solle freiwillig geschehen. Er selber wolle aber mit gutem Beispiel voran gehen. Deshalb erklärte er, am Reformationstag die „Vereinigung der bisherigen reformirten und lutherischen Hof- und Garnison-Gemeine zu Potsdam, zu Einer evangelisch-christlichen Gemeine zu feyern, und mit derselben das heilige Abendmahl zu genießen“. Dauerhafte Gemeinschaft beim Abendmahl war deshalb Kern und Stern der angestrebten Union. Über das Wie der Abendmahlsfeier, hoffte der König, würden sich die Geistlichen alsbald verständigen. Doch dazu kam es nicht. Vielmehr kehrte die Mehrheit der Gemeinden nach dem Reformationsfest zu ihrer gewohnten Abendmahlspraxis zurück mit dem heilsamen Unterschied, dass sie sich gegenseitig die Teilnahme in ihrem Abendmahl gewährten. Es kam zu dem, was heute „eucharistische Gastbereitschaft“ heißt.

Drittens: Dass der Unionsprozess nicht voranging, lag allerdings auch daran, dass der antidemokratisch gesonnene König sich weigerte, auf allen kirchlichen Ebenen Synoden zuzulassen, die einen Konsens in den offenen Fragen der Union wie dem Abendmahlsritus und dem Verhältnis von Union und Bekenntnis hätten beschließen können. Zur Fortsetzung des Unionsprozesses wandte sich der König stattdessen der Gottesdienstreform zu und legte nach Probeläufen schließlich den Pfarrern und Gemeinden 1823/24 eine von ihm selbst verfasste gottesdienstliche Agende zur Annahme vor. Für ihn schloss sein bischöfliches Amt auch Fragen des Kultus ein. Als Grundlage der Agende diente ihm eine in der Kirche seiner Sommerresidenz in Paretz bei Potsdam gefundene lutherische Messordnung von 1572. Die liturgischen Einzelstücke nahm er jedoch aus reformierter, lutherischer, anglikanischer, orthodoxer und katholischer Tradition und ließ sie mit romantischen Melodien versehen, die ein Chor zu singen hatte.

Größere Feierlichkeit war das Ziel. Allerdings drängte diese Liturgie die Predigt und den Gemeindegesang an den Rand. Der liturgische Geschmack des in den Männergesang des orthodoxen Gottesdienstes verliebten Königs führte zu dem heftig geführten Agendenstreit. Den Reformierten war der Entwurf zu katholisch, den Lutheranern zu wenig wirklich lutherisch. Doch Friedrich Wilhelm iii. gab nicht auf: Mit mehr oder weniger sanftem Druck, mit Auszeichnungen und Belohnungen, aber auch Korrekturen und Kompromissen gelang es ihm, bis 1829 eine breite Zustimmung zu seinem Agendenwerk zu bewirken. Neben dem Sonntagsgottesdienst und dem Abendmahl enthielt es auch Ordnungen für Taufe, Konfirmation, Trauung, Bestattung und Ordination und erschien in Ausgaben für alle acht preußischen Provinzen. Unter Anspielung auf viele verliehene Rote-Adler-Orden kommentierte der Theologe Daniel Friedrich Schleiermacher (1769– 1834): „Bei uns wurde die Union auf Adlersflügeln hereingetragen.“

Viertens: Auch in Schlesien fand die Agende letztendlich eine Mehrheit. Doch eine beachtliche Minderheit unter Anführung des Breslauer Theologieprofessors Johann Gottfried Scheibel blieb ablehnend. Als der König versuchte, die Ablehnung mit Gewalt zu unterdrücken, kam es zur Abspaltung lutherischer Gemeinden, nicht nur in Schlesien. Viele von ihnen emigrierten nach Nordamerika, ja bis nach Australien. Erst der Sohn des Königs, Friedrich Wilhelm IV., befriedete diesen Konflikt, indem er im Jahr 1845 den Altlutheranern den Status einer Freikirche gewährte.

Es hat lange gedauert, bis zum 150. Jubiläum der damalige Präsident der Evangelischen Kirche der Union (EKU), Franz-Reinhold Hildebrandt, in seiner Predigt in der Marienkirche in Berlin-Mitte am 5. November 1967 die Altlutheraner für die ihren Vorfahren einst angetane Gewalt um Vergebung bat. Diese Bitte hat vierzig Jahre danach zu Gesprächen zwischen der UEK und der SELK geführt, die in einen Buß- und Dankgottesdienst am 22. November 2017 in der altlutherischen Kirche St. Annen in Berlin-Mitte einmündeten! Von SELK und UEK wurde dazu vorab ein Gemeinsames Wort erarbeitet.

Fünftens: Mit den westlichen Provinzen Rheinland und Westfalen schloss der König erst 1834 einen Deal: Sie nahmen die Agende an, er genehmigte widerwillig die rheinisch-westfälische presbyterial-synodale Kirchenordnung. Dieser Kompromiss und die Klarstellung des Erhalts der unterschiedlichen Bekenntnisse und Katechismen in der Union wurden maßgebend für ihre weitere Entwicklung.

Bis 1875 hatte sich die presbyterial-synodale Kirchenordnung in ganz Preußen durchgesetzt. Mitte der Siebzigerjahre des 19. Jahrhunderts war aus der preußischen Union eine konfessionell gegliederte Landeskirche mit einer gemeinsamen Liturgie und dem 1850 geschaffenen Evangelischen Oberkirchenrat als gemeinsamer Kirchenleitung unter dem König geworden. In der Zeit des Nationalsozialismus hat diese Union nur in der Minderheit der Bekennenden Kirche ihre Feuerprobe bestanden, aber im Jahr 1937 endlich auch den lange gesuchten synodalen Konsens in der theologischen Begründung der Abendmahlsgemeinschaft gefunden. Trotz der Verselbständigung ihrer Kirchenprovinzen nach dem Zweiten Weltkrieg konstituierte sich die altpreußische Kirche 1953 neu als Evangelische Kirche der Union (EKU), um in der Zeit der deutschen Teilung eine starke und viel genutzte Brücke zwischen Ost und West zu werden. Im Jahr 2003 ging sie in der Union Evangelischer Kirchen (UEK) auf.

Warum des zum Reformationstag 1817 begonnenen Weges zur preußischen Union erfreut gedenken? Aus fünf Gründen:

De facto eine Kirche

Erstens: Nicht nur in Preußen wurde der Weg zur Kirchenvereinigung gegangen. Neun zur EKD gehörende Landeskirchen sind uniert. Und die EKD selber ist de facto, wenn auch nicht de iure eine Kirche vom Typ der preußischen Union. Da ist beisammen, was ursprünglich in der Reformation zusammen gehörte.

Zweitens: Die vornehmlich aus reformierten Wurzeln stammende presbyterial-synodale Kirchenordnung ist nicht zuletzt durch die preußische Union zum Standard aller evangelischen Kirchen in Deutschland geworden.

Drittens: Das lange umstrittene Agendenwerk des preußischen Königs war der Beginn eines Weges, der zu den Agenden führt, die heute in den Kirchen des ehemaligen Preußen gelten. Auch das „Evangelische Gottesdienstbuch“ der EKU und der VELKD von 1999 gehört in diese Tradition. Deren liturgische Substanz kann auch eine Brücke zur römisch-katholischen Kirche werden.

Viertens: In der konfessionell gegliederten preußischen Union wurde gelebt, was im 20. Jahrhundert, dank der „Konkordie Reformatorischer Kirchen in Europa“ von 1973, der so genannten Leuenberger Konkordie, Kirchengemeinschaft heißt. In deren Zentrum steht die Abendmahlsgemeinschaft konfessionell verschiedener Kirchen mit der gegenseitigen Anerkennung als Kirche Jesu Christi.

Konkret bedeutet das gegenseitige Anerkennung der Ämter und der Ordination. Nicht notwendig folgt daraus eine Kirchenunion, aber in den Niederlanden und in Frankreich bilden die reformierten und die lutherischen Kirchen inzwischen eine solche.

Schließlich: Die preußische Union ging davon aus, dass das Gemeinsame der beiden Konfessionen stärker ist als das Trennende. Deshalb wurde Abendmahlsgemeinschaft als Anfang statt als Ziel eines Prozesses gewährt, in dem Unterschiede, ja Gegensätze in Lehre und Leben überwunden sind. Die evangelischen Kirchen pflegen schon die Gastbereitschaft im Abendmahl auch für katholische Christen. Ein einladender Vorsprung. Anlässlich des 150. Geburtstags der EKU im Jahre 1967 hat der lutherische Kirchenhistoriker Wilhelm Maurer die preußische Union einen „Wurf in die Zukunft“ genannt. Mit Recht.

Literatur

Evangelische Kirche der preußischen Union 1817–2003. Ein Bild- und Textband. Veröffentlichungen des Evangelischen Zentralarchivs Bd. 11, Berlin 2013.

Wilhelm Hüffmeier

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