Alpdrücken und Liebeszauber
Ach, lieber Gott, so werden die Seelen, die Deiner Obhut anvertraut sind, zum Tode unterwiesen“, warnte der Wittenberger Professor für Bibelwissenschaften Martin Luther am 31. Oktober 1517 seinen Erzbischof Albrecht von Mainz. Dieser Brief und die ihm beigelegten 95 Thesen zeigen: Die beginnende Reformation war motiviert aus einer tiefen Sorge um anvertraute Seelen, sie war eine Seelsorgebewegung. Luther warnte seinen Bischof eindringlich vor den Folgen des Vertrauens in die Kraft der Ablässe. Sie brächten trügerische, falsche Sicherheit, die durch Ablassprediger genährt werde: Durch „diese falschen Märchen und Versprechungen vom Ablaß“ werde „das Volk“ zu falscher Sicherheit verführt, „da doch der Ablaß den Seelen nicht zum Heil und zur Heiligkeit verhilft, sondern nur äußerliche Strafe wegnimmt…“ Im ausgehenden Mittelalter war solche Ablasskritik durchaus nicht neu. So hatte sich der Würzburger Domprediger Johann Reyss seit 1514 mehrfach gegen die Verkündung des Plenarablasses zum Bau der Peterskirche ausgesprochen. Auch andernorts, wie in einem humanistisch-reformatorischen Kreis in Braunschweig, dem der später mit den aufständischen Bauern verbündete Prediger an der Michaeliskirche Thomas Müntzer angehörte, wurde deutliche Kritik am Petersablass geübt.
Luthers Ablassthesen entstanden in einem humanistisch-reformorientierten Umfeld, das sehr viel breiter und vielfältiger war als die Wittenberger Bewegung, die sich bald um ihn sammelte. Ablasskritik war im ausgehenden Mittelalter durchaus nicht nur in Wittenberg anzutreffen. Umgekehrt ist in Luthers reformatorischen Impulsen die Ablasskritik in ein facettenreiches und vielfältiges Bemühen um eine verantwortliche Orientierung und Begleitung der ihm anvertrauten Seelen eingebettet. Etwa in einer wenig beachteten Wittenberger Predigtreihe über die Zehn Gebote, um 1516/17 setzte sich Luther intensiv mit der mittelalterlichen Volksfrömmigkeit auseinander; wie in vielen anderen Dekalogauslegungen des späten Mittelalters findet sich auch in dieser Predigtreihe, die umgearbeitet 1518 im Druck erschien, eine Kritik der weit verbreiteten Praxis von Magie und Aberglaube. Neu war bei Luther, dass er neben mancherlei magischen Praktiken auch die Heiligenverehrung und das Vertrauen auf weltliche Schätze und Ehren scharf kritisierte. Am für Luther auch später hoch bedeutsamen Kriterium des Ersten Gebotes - „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“ - wurde daneben auch die verhängnisvolle Macht der Eitelkeit gegeißelt, die erst und allein im Vertrauen auf Christus geläutert werden könne.
Die Passagen der umfänglichen Magiekritik des jungen Luther zeigen: Der Wittenberger Augustinermönch kannte Vorlieben, religiöse und quasireligiöse Bräuche seiner Zeitgenossen. Und er nannte sie nicht „Aberglaube“, sondern „Götzendienst“. Luther war der Auffassung, jedes Lebensalter habe spezifische magische Präferenzen. Das Leben der Jugendlichen sei durch Wettbewerb und Kräftemessen charakterisiert; er selbst habe, so Luther, einen jungen Mann beobachtet, „der sich selbst ein Schwert an den bloßen Leib setzte und mit aller Macht darauf drückte, dass das Heft sich bis zur Spitze bog und wieder zurücksprang, und geschah ihm doch kein Leid.“ In der Jugendzeit, aber auch in späteren Lebensaltern spiele zudem der Liebeszauber eine große Rolle. Bei jungen Erwachsenen begünstige vor allem die Sorge um die Kinder quasireligiöse Praktiken, die vor „Alpdrücken“ und rätselhaften Krankheiten mit Schutzbriefen geschützt werden sollten. Im höheren Alter, so Luther, begegne bei alten Frauen, aber auch bei magiekundigen Männern die Neigung zum Bund mit gottfeindlichen Mächten: Akteure diabolischer Verführungskunst seien Wahrsager, Zeichendeuter, die mit der schwarzen Magie befassten Zauberer, abergläubische Segensprecher, Hexen und andere magiekundige Zeitgenossen.
Luther warnte scharf vor diesen Akteuren und ihren Verführungen, vor allem aber vor dem fehlgeleiteten Vertrauen in ihre Künste: Erst und vor allem das Zutrauen in abergläubische Bräuche wirke und zeitige verhängnisvolle Konsequenzen. Magische Handlungen würden erst durch das nötige Vertrauen auf ihren Nutzen wirksam. Es deutet sich darin bereits eine Einsicht an, die später im Großen Katechismus 1529 wirkungsträchtig formuliert wird: „Denn die zwei gehören zusammen, Glaube und Gott. Worauf du nun (sage ich) dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich dein Gott.“
Quasireligiöse Praktiken
Diese Pointen zeigen, dass Luthers 1517 einsetzende Kritik am Ablasswesen nur eine Facette seiner umfassenden Beschäftigung mit spätmittelalterlicher Frömmigkeit und Magie war. Die Kritik an Fehlformen der Heiligenverehrung, an eitlem Ehrgeiz, quasireligiösen Praktiken und der Entleerung des Bußsakramentes durch fehlgeleitetes Vertrauen auf Ablässe ist aus der Fürsorge für die ihm anvertraute Seelen motiviert.
In der Forschung wurde die durchgehende seelsorgliche Komponente und Ausrichtung von Luthers Theologie vor allem aus seinen zahlreichen Briefen herausgearbeitet. Doch zweifellos hat die enorm wirksam gewordene reformatorische Rechtfertigungslehre bereits in ihren Anfängen ein seelsorgliches Proprium, das nicht allein in Luthers Korrespondenz begegnet. Die frühe Kritik des späteren Reformators am fehlgeleitetem inneren Vertrauen auf religiöse und quasireligiöse Angebote wird bald in die immer neu variierte und unermüdlich wiederholte Warnung vor dem Vertrauen auf die „Werkgerechtigkeit“ eingebettet - ebenso ist die kluge reformatorische Einsicht, dass der glaubende Mensch immer zugleich Sünder und „gerechtfertigt“ sei, bei Luther deutlich seelsorglich konnotiert.
Im Umfeld des Ablassdisputes finden sich viele weitere, kaum beachtete Schriften, die das seelsorgliche Proprium der Reformation eigens betonen, wie die im September 1522 dem sächsischen Kurfürsten Friedrich dem Weisen gewidmete Schrift „Vierzehn Tröstungen für Mühselige und Beladene“. Der Kurfürst war über den politischen Auseinandersetzungen im Umfeld der Kaiserwahl nach dem Tod Maximilians I. so angefochten, dass er in Torgau schwer erkrankte. In einem die Tradition der „vierzehn Nothelfer“ aufnehmenden Büchlein stellte Luther für ihn vierzehn Tröstungen zusammen. Er empfahl die innere Ausrichtung auf aufbauende Bilder und Erinnerungen, in denen eine starke Kraft liege. So lehre der Blick auf die vielen überwundenen Übelstände und Gefahren im bisherigen Leben die Dankbarkeit für die Hilfe Gottes: „Ich gedenke der vorigen Zeiten. Ich rede von all deinen Taten und sage von den Werken deiner Hände“ (Psalm 143,5).
Die dem Wirken Luthers stets immanente seelsorgliche Konnotation und Fundierung ist in anderer Form und Zielrichtung auch andernorts in der von Wittenberg ausgehenden reformatorischen Bewegung anzutreffen. In Philipp Melanch-thons diplomatischem Engagement für die Konsolidierung der Reformation begegnet die programmatische Verbindung von humanistischem Bildungsethos und bibelorientierter Reformation. Er trainierte die Fokussierung auf die gebildete, aus der Essenz von antiken Quellen gereifte, auf Christus gerichtete Haltung der Seelen. In Johannes Bugenhagens Engagement für evangelische Kirchenordnungen in Norddeutschland und Dänemark ist ein durchgehendes Interesse anzutreffen, mit den kirchlichen Verhältnissen auch das Sozialwesen und die Armenfürsorge zu ordnen. Mannigfach sind in den Schriften der reformatorischen Bewegung auch seelsorglich motivierte Trostschriften anzutreffen. Die Straßburger Reformatorin Katharina Zell (1497-1562), die Gattin des evangelischen Predigers Matthäus Zell, schrieb Auslegungen der Psalmen und des Vaterunsers, mit denen sie angefochtene Menschen ansprach. Nach der Ausweisung von 120 evangelischen Glaubensgenossen aus dem schwäbischen Kenzingen verpflegte sie nicht nur etliche von ihnen im Zell’schen Pfarrhaus, sondern richtete überdies ein Trostschreiben an ihre in Kenzingen verbliebenen Gattinnen: „Meinen Mitschwestern in Christo Jesu zu Händen“ (1524).
Wie wirken diese seelsorglich fundierten und inspirierenden reformatorischen Impulse auf die Gegenwart? Wo liegen Bezüge? Die Seelsorge der Gegenwart ist pastoralpsychologisch sensibilisiert. Der modernen Pluralität der Lebensformen entspricht die gegenwärtige Differenzierung in eine lebendige Vielfalt: Die Gemeindeseelsorge begleitet weiterhin Menschen in ihrem regionalen Umfeld in sehr persönlichen Lebensstationen zwischen Geburt und Tod. Aber neben und mit ihr haben sich seelsorgliche Arbeitsfelder etabliert, die Lebenssituationen und Berufe begleiten. Die Militärseelsorge unterstützt Soldaten bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr und befasst sich auch mit den seelischen Wirkungen des Schusswaffeneinsatzes - so wie die Polizeiseelsorge, die für Beamte vertrauensbildende Gesprächsräume öffnet, in denen Schweigepflicht und Beichtgeheimnis eine besonders hohe Bedeutung haben. Die Krankenhausseelsorge begleitet Menschen, deren Lebensweg von Krankheit unterbrochen, vielleicht nachhaltig verändert oder beendet wird. Einen hohen Standard hat weithin die Ausbildung von Ehrenamtlichen, die in der Telefonseelsorge arbeiten - aber auch in der Notfallseelsorge, die besonders bei großen Schadensereignissen in das Blickfeld einer breiteren Öffentlichkeit gerät.
Seelsorge multidimensional
Auch im Blick auf ihre Akteure ist die Seelsorge heute so vielfältig und mehrdimensional, dass es schwer fällt, sie knapp und klar in einen umgreifenden Begriff zu fassen. Thomas Klessmann definiert „Seelsorge“ in seinem „Lehrbuch“ (4. Auflage 2012) offen als eine „spezifische Form religiöser Kommunikation“, als Begleitung, Beratung, Begegnung und Lebensdeutung „im Horizont des christlichen Glaubens“, die aus einer ganzen „Vielfalt der Seelsorge-Situationen“ erwächst und darum einen „multidimensionalen Seelsorgebegriff“ verlangt. Nach einer theologischen Begründung dieses spezifischen Seelsorgebegriffs muss man allerdings oft länger suchen. Was genau mit dem christlichen Glauben gemeint ist, mit welchem konkreten Menschenbild er sich verbindet und aus welcher Wahrnehmung des und der Menschen er erwächst, darin bleibt evangelische Seelsorgelehre eher zurückhaltend - und pluriform. Von welcher Position aus nimmt sie Kategorien des verantwortlichen Handelns und lebensweltlicher Orientierung, die Fragen von Schuld, Anfechtung, Vergebung und Versöhnung in den Blick und ernst? Wo gewinnt und entfaltet sich an Lebens- und Sterbensfragen ihr Sitz im Leben? Der Bonner Professor für Praktische Theologie Michael Meyer-Blanck räumt im „Handbuch der Seelsorge“ immerhin ein, dass die „Seelsorge selbst“ vor allem „christliche Praxis“ sei und „allenfalls theologische Implikationen“ habe.
Ist es angemessen, wenn - wie auf der Homepage der EKD - das Angebot der Seelsorge sofort in Felder scheinbarer „Spezialseelsorge“ differenziert wird? Die Assoziation liegt nahe, dass Seelsorge inzwischen nur noch spezialisiert als Sonderseelsorge wahrgenommen werden kann. Aber Nähe zum Menschen ist erwünscht, egal wie er lebt und arbeitet.
Und es gibt ihn mannigfach, den speziellen und besonderen Lebenswert der Seelsorge. Dort, wo Eltern von schwerstbehinderten Kindern an einer evangelischen Schule auch im Sterbeprozess einfühlsam und stärkend begleitet werden. Dort, wo Menschen in Beratungsstellen Rat und Hilfe nach Ehescheidungen, bei belastenden Erziehungsproblemen und in Trauerprozessen antreffen. Dort, wo Flüchtlinge nicht nur Obdach und Asyl, sondern bei Mitarbeitenden der Diakonie auch Gehör für ihre Fluchterlebnisse finden. Dort, wo Betroffene nach Unglücksfällen bei Angehörigentreffen der Notfallseelsorge zu Schicksalsgemeinschaften zusammenwachsen und sich in diesen geschützten Vertrauensräumen - endlich - verstanden fühlen. Dort liegt der unmittelbar spürbare Lebenswert gegenwärtiger Seelsorge, die Menschen begleitet und offen ist für religiöses Suchen.
Hierfür kann der Blick auf die reformatorische Theologie des 16. Jahrhunderts durchaus sensibilisieren und inspirieren, eine Theologie, die ihre Pointen direkt aus dem und auf den Lebensalltag ihrer Zeitgenossen bezog und die sich einließ auf die tägliche Gewissensorientierung und mannigfache Anfechtung von Gewalterleben, Schuld, Verzweiflung und Verderben. Um nur ein Beispiel zu nennen: Luther empfahl für Lebenslagen, die mit dem Tod konfrontieren, in seinem „Sermon von der Bereitung zum Sterben“ heilsame und lebensförderliche Bilder, die inneren Frieden fördern und stärken: „Du musst … die Sünde nicht anders als in der Gnade Bild ansehen und dies Bild mit aller Kraft in dich hineinbilden und vor Augen haben“.
Auch in Gesprächen in Einsätzen der Notfallseelsorge sind wir oft hineingestellt in einen „Kampf der inneren Bilder“. Fragen nach den Todesumständen eines geliebten Menschen drängen verstörende, enorm belastende Bilder auf. Die intensive Suche gilt dann stärkenden, entlastenden Wahrheiten und Ritualen von Zuspruch und Stärkung, die gegen Schuldvorwürfe, intensiven Trauerschmerz und traumatische Verlusterfahrungen gesetzt werden können. Man kann solche den Lebensmut stärkende innere Bilder und Symbole nur anbieten - und vielleicht teilen mit denen, deren Lebensprüfungen womöglich kaum auszuhalten sind und deren Schmerz unermesslich scheint. Menschen unter ihrem Kreuz und im Ringen um ihren Lebens- und Sterbensweg nicht allein lassen, das macht christliche Seelsorge weiterhin zu einem besonderen und verantwortlichen Angebot vor
Uwe Rieske
Uwe Rieske
Uwe Rieske ist Militärdekan beim Evangelischen Militärpfarramt in Bonn.