Die europäische Geschichte wurde maßgeblich von Bildwerken und Architekturen gestaltet. Kein politisches Ereignis, sei es historisch oder aktuell, begegnet uns ohne Bild. Orte sind mit Gebäuden verbunden und werden als Kulturlandschaften wahrgenommen. Die beiden christlichen Konfessionen, wenn auch nicht ausschließlich, waren hier lange Zeit prägend. Die soziale, politische und kulturelle Bedeutung muss mittlerweile eigens betont werden. Denn die unterschiedlich motivierten Bindekräfte zur Kirche und ihrer reichhaltigen Bildwelt haben sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend gewandelt. Durch das Kulturbüro des Rates der EKD, herausgegeben von Klaus-Martin Bresgott, sind zwei umfangreiche Broschüren erschienen, die unter dem beredten Titel Sehen lernen Zugangswege wiederbeleben und ebenso neue eröffnen.
Die erste Publikation widmet sich der Stilgeschichte des protestantischen Kirchenbaus, sensibilisiert für die historische Vielfältigkeit der unterschiedlichen Bauformen und weckt die Neugierde auf vermeintlich Vertrautes. Stilformen sowie Baudetails werden in ihrer historischen Entwicklung nachvollziehbar mit den wichtigsten Fachbegriffen beschrieben, doch geht hierbei nie der Bezug zum Objekt verloren. Denn ein Kirchengebäude kann nicht nur aus funktionaler Perspektive begriffen werden. Es ist über Generationen hinweg gewachsen und berichtet in seiner individuellen Ausgestaltung ebenso über Zeitgeist und Weltsicht. In diesem Sinne nimmt die zweite Publikation der Reihe die Motive und Symbole der christlichen Bildsprache in den Fokus. Beispielsweise werden den Betrachtern die verschiedenen Heiligen mit durchdacht formulierten Ausführungen nahegebracht.
Das Ziel besteht keineswegs nur darin, das Sichtbare zu erläutern. Vielmehr durchzieht den Text die wesentliche Absicht, Interesse zu wecken sowie eigene Seherfahrungen anzuregen. Dementsprechend wird eine große Anzahl zentraler biblischer Themen jeweils anhand eines Bildbeispiels eingehend und nachvollziehbar dargelegt. Die Ausführungen bauen dabei nicht auf Vorwissen auf, sondern richten sich generationenübergreifend an jene, welche mit wachem Auge und Geist sehen wollen. Die beiden Handreichungen zur christlichen Architektur und Bildwelt, die über das Kulturbüro der EKD unter kultur@ekd.de zu beziehen sind (Schutzgebühr: zwei Euro), bieten nicht nur gut formulierte Erklärungen. Sie können vielmehr zu vitalen Diskussionen vor Ort darüber anregen, was das Wissen um die Darstellung religiöser Themen heutzutage bedeuten mag. Denn diese sehen zu lernen, ist ein Aspekt. Mit ihnen weiter zu denken, ein anderer.
Kirchen sind keine Museen. Denn nur an diesem besonderen Ort begegnen uns die Werke in einem Kontext, für den sie gemacht wurden. Im Fundus der Themen, wie diese beiden Publikationen von Sehen lernen vorstellen, zeigt sich insofern, welche ethischen Fragen von zentraler Bedeutung waren und sind. Denn mit diesen konfrontieren uns die Bildwerke und Architekturen nun einmal. Deren nie endgültige Antworten konturieren die eigene Identität, helfen zu erkennen, was wichtig ist. So entsteht aus der Kenntnis der Darstellungsformen und Symbole kein bunter Geschichtsunterricht. Vielmehr machen die Bilder als einem kritischen Gegenüber die Schwierigkeiten des Lebens anschaulich beziehungsweise begreiflich, im Sehen, Denken und gemeinsamen Diskutieren. Die beiden Motive auf dem Einband von Sehen lernen 2 vermitteln diese Ambivalenz auf sehr eindrückliche Art und Weise. Es ist zweimal ein Apfel zu erkennen: in der Hand des Jesusknaben und in jenen von Adam und Eva.
Pablo Schneider