Grenze des Todes

Warum der Mensch im Schlaf eines persönlichen Gottes bedarf
Eugène Delacroix: Christus auf dem See Genezareth, 1853. Foto: akg-images
Eugène Delacroix: Christus auf dem See Genezareth, 1853. Foto: akg-images
Schon in der Antike wussten die Menschen, dass guter Schlaf überlebenswichtig ist. In der Bibel werden Schlaf, Tod und Traum eng miteinander verknüpft, wie der Nürnberger Bibelwissenschaftler Jörg Lanckau beschreibt.

Menschen in der Antike wussten aus Erfahrung, was heute in Laboren erforscht wird: Der Schlaf ist ein Grundphänomen allen Lebens. Er ist lebenswichtig, denn er dient der körperlichen und geistigen Regeneration. Physische oder psychische Ursachen können Schlafstörungen verursachen. Dauerhafter Schlafentzug führt letztlich zum Tod.

In der Bibel werden diese Beobachtungen aufgegriffen, aber auch gewertet: Wer gut schläft, dürfe sich eines gottgefälligen Lebens rühmen. Wem solche Ruhe nicht gegeben ist, müsse sich fragen, ob die Situation mit ethisch fragwürdigem und daher gottlosen Lebenswandel (Sprüche 3,24 und öfter) zusammenhängen könne. Doch die biblischen Texte moralisieren nicht oberflächlich, sondern wissen, dass schwere Sorgen ebenso gut zur Schlaflosigkeit führen können (Psalm 3,6 und öfter).

Schlafphasen wie Delta- und rem-Schlaf als verschiedene Bewusstseinszustände wurden bereits in der Antike beobachtet. Zwischen Schlaf und Wachwelt steht nach antiker Auffassung der Traum. Dies zeigt die Etymologie: Das akkadische Wort für „Traum“ (schuttu) wird von „schlafen“ (schittu) abgeleitet. Ein ägyptisches Wort für Traum (rsw.t) aber wird vom Verb „erwachen“ (rs) abgeleitet, und ägyptisch „Schlaf“ (qd) kann direkt für einen Traum stehen. Die moderne Forschung hat diese Sicht weithin bestätigt, indem sie die REM-Phase als eigenen Zustand beschreibt.

Die Grundbedeutung des hebräischen Wortes schlafen (schnh) wurde weiter entwickelt zu „alt sein“ im Sinn von „zur Ruhe gekommen sein“ (Deuteronomium 4,25 und öfter). Man spricht auch synonym vom „sich niederlegen“ oder „schlummern“. Das griechische Alte Testament (Septuaginta) gibt das hebräische Substantiv Schlaf (schenah) meist mit hypnos wieder. Dabei kann bereits das Träumen angesprochen sein. Entsprechend verwendet auch das Neue Testament den Ausdruck.

Lange Zeit bevor biblische Texte aufgeschrieben wurden, forschten Gelehrte im alten Ägypten nach den Grundlagen des Schlafes. Nach ihrer Auffassung erneuerte dieser – wie eine persönliche Kraft – Nacht für Nacht alle Lebenden. Wer sich niederlegt, bleibt nur scheinbar auf seinem Lager, sondern begibt sich auf eine Reise zum Himmel weit über der Erde, sogar bis in das Chaos am Anfang allen Lebens. Im Schlaf öffnen sich Fenster zur Welt der Ahnen. Anders gesagt, er verbindet wie eine Brücke das Jenseits der Götter mit dem Diesseits der Menschen. Die Seele verlässt den Körper und begibt sich träumend auf eine Reise in ein Niemandsland zwischen Leben und Tod. Wenn Schlaf, Tod und Traum so eng verknüpft werden, wird verständlich, dass der Mensch im Schlaf den Schutz eines persönlichen Gottes benötigt.

Wie wir noch heute sagen, jemand sei „eingeschlafen“, verstehen auch biblische Texte den Schlaf als Todesmetapher: „Sieh mich an, erhöre mich, Jhwh, mein Gott. Mache meine Augen hell, damit ich nicht zum Tod entschlafe,“ betet der Dichter (Psalm 13,4). Mit den Worten „ich will sie ... trunken machen, dass sie zu ewigem Schlaf einschlafen sollen, von dem sie nie mehr aufwachen“, spricht das Buch Jeremia dem trauernden Volk Mut vor Feinden zu (Jeremia 51,39).

Klare Unterscheidung

Zwei Beispiele aus dem Neuen Testament zeigen einen differenzierteren Umgang mit dieser Redeweise. Jesus spricht wie selbstverständlich zu seiner engsten Umgebung: „Lazarus, unser Freund, schläft; aber ich gehe, um ihn aufzuwecken.“ Dass ein besonderer Mensch wie Jesus ärztliche und psychotherapeutische Fähigkeiten besitzt, können wir noch heute nachvollziehen. Dass ein Mensch die Grenzen des Todes überschreitet, schien auch für damalige Ohren unglaublich zu sein.

Die Freunde Jesu wissen um den Ernst der Lage des Patienten und antworten lebenspraktisch: „Wenn er schläft, wird er gerettet werden.“ Was in diesem Zusammenhang heißen soll: Wenn er wirklich nur schläft und nicht bereits gestorben ist, dann besteht Hoffnung, dass Du ihn noch rechtzeitig heilen kannst. Falls jemand hier zweifelte – der Evangelist Johannes klärt uns sofort auf: „Jesus aber hatte von seinem Tod gesprochen. Sie jedoch meinten, er rede von der Ruhe des Schlafes.“ Im Kontext (Johannes 11,1-45) wird das unglaublichste aller Wunder, die Rückkehr ins Leben nach dem physischen Tod, metaphorisch als „Wecken“ beziehungsweise „Auferweckung“ beschrieben.

Das Markusevangelium ist an klarer Unterscheidung von Schlaf und Tod interessiert: „Das Kind ist nicht gestorben, es schläft“, sagt Jesus (Markus 5,39), ehe er der Zwölfjährigen befiehlt: „Mädchen, steh auf!“ Jesus verwendet die Metapher verhüllend nur für die Menge der Wissbegierigen vor der Tür. Uns „eingeweihten“ Lesenden und Hörenden muss ohne Erläuterung klar werden: Hier geht es gerade nicht um den Schlaf, sondern um die Grenze des Lebens. Daran scheiden sich die Geister bis heute.

Metaphorisch ist auch die Rede vom Schlaf als Symbol der Untätigkeit (Jesaja 56,10 und öfter). Von der lebenserhaltenden Ruhe des Sabbats ist diese Art Müßiggang durch seinen falschen Zeitpunkt unterschieden (Jesaja 29,10; 1Thessalonicher 5,6 und öfter). Das Gegenteil solcher Apathie, nämlich die Wachsamkeit, gilt als Idealvorstellung christlichen Lebens (Markus 13,33ff; Römer 13,11; 1Petrus 5,8; Apk 16,15 und öfter).

Wenn wir sagen, dass wir mit jemandem „schlafen“, beziehen wir uns auf eine weitere biblische, metaphorische Redeweise. Genesis 19,32f spricht euphemistisch vom Schlaf im Sinne von Geschlechtsverkehr. Dies dürfte auch in Psalm 127,2 gemeint sein, wenn Gott „seinen Geliebten im Schlaf gibt“, da im folgenden Vers Kinder als Gottesgeschenk bezeichnet werden.

Der Schöpfungshymnus am Anfang der Bibel zielt auf den Sabbat. Gott „ruht“ am siebenten Tag (Genesis 2,2f). Aber schläft Gott selbst, wie ein Mensch? Wo Gott aufgefordert wird, zu erwachen (Psalm 35,23; 44,24; 59,5), wird metaphorisch die Tatenlosigkeit angesprochen: Wo ist Gott, wenn Mensch Gott vermisst? So betet Mensch, um Gott zu „wecken“. Andere Texte betonen, dass der Ewige gerade nicht schläft, sondern auch nachts über sein Volk beziehungsweise den Einzelnen wacht (Psalm 121,4). Gottes Wachen im Sinne aktiver Wirksamkeit und das Schlafen des konkurrierenden, aber kraftlosen Ba’al werden in 1Könige 18,27 polemisch gegenübergestellt. Damit ist nichts darüber gesagt, ob Gott ein Bedürfnis nach Schlaf hat. Vielmehr ist der ideale Wächter vorgestellt, der sicher den Schlaf der Seinen behütet.

Nichtbiblische Texte werden konkreter: Philo von Byblos zufolge besitzt der Titan Kronos vier Augen. Zwei davon sind offen und zwei geschlossen, sodass er „schlafend sieht und wachend schläft“ (Euseb, Praeparatio evangelica I, 10, 36f). Im äthiopischen Henochbuch aus jüdisch-hellenistischer Feder bewachen „Nichtschlafende“ (Engel) den Thron Gottes (39,12f; 71,7). In diesen Zusammenhang kann auch der Schlaf Jesu während des Sturmes im Boot (Markus 4,38; Lukas 8,23) gestellt werden. Jesus erscheint chaotischen Mächten göttlich überlegen.

Der Schlaf wird in der Antike oft als physischer Rahmen einer Offenbarung beschrieben. Er wird als Medium bedeutungsvoller Träume verstanden, die „von außen“ an den Menschen herantreten und von gewöhnlichen Träumen getrennt werden. In der Bibel werden sie von Gottesreden im Wachzustand klar unterschieden. Letztere stellen erzählerische Darstellungen bereits gedeuteter Offenbarungen dar. Der common sense über Schlaf und Traum wird in Hiob 33,14-18 auf den Punkt gebracht:

„... denn: in einem redet Gott, im zweiten – man bemerkt es nicht. Im Traum, der Offenbarung der Nacht, wenn Erstarrung auf die Menschen fällt, im tiefen Schlafen auf dem Lager, dann öffnet er das Ohr der Menschen und bestätigt die Warnung fu?r sie, um den Menschen von seinem Tun abzuwenden und den Hochmut vom Mann fern zu halten, um seine Seele zurück zu halten von der Todesgrube und sein Leben davon, in den Spieß zu rennen.“

Ausgeschaltete Aktivität

An einigen Stellen des hebräischen Textes wird ein spezielles Verb mit der Bedeutung „betäubt sein“ (rdm) gebraucht. Das zugehörige Substantiv bezeichnet eine Erstarrung (tardemah). Hier steht wieder die Beobachtung der Schlafphasen im Hintergrund. Der Ausdruck scheint als feststehender Begriff für einen von Gott direkt bewirkten Tiefschlaf reserviert. Wenn dieser auf einen Menschen fällt, ist jede Aktivität ausgeschaltet. Dies wird bereits durch mesopotamische Berichte überliefert, die äquivalente Begriffe kennen. Die Göttinger Altorientalistin Annette Zgoll hat die entsprechenden Texte untersucht. Die vergleichbaren Beobachtungen verweisen ihr zufolge auf einen kulturellen Erfahrungshorizont, der auch für heutige Menschen empirisch nachvollziehbar ist. Wenn ein Mensch tief schläft, laufen die Körperfunktionen nur auf minimaler Basis. Von außen betrachtet wirkt der Träumende maskenhaft erstarrt und leblos. Wird er geweckt, erinnert er sich mit frappierender Intensität an das Geträumte. Für antikes Erleben könne das als typisch für eine Gottesbegegnung gewertet worden sein, so Annette Zgoll in ihrem Buch Traum und Welterleben.

Genesis 2,21 beschreibt mit tardemah die Narkose bei der Erschaffung der Frau. Genesis 15,12 stellt damit die Passivität Abrahams heraus. Zudem wird dieser Ausdruck mit einem Begriff für „Offenbarung“ (chazon) parallelisiert: „Beim Grübeln über Nachtgesichte (chazon), wenn tiefer Schlaf (tardemah) auf die Menschen fällt, kam Furcht und Zittern über mich, und schreckte meine Glieder auf“ (Hiob 4,13f).

Umgekehrt wird aber die Passivität des Tiefschlafes als symptomatisch für das Ausbleiben göttlicher Offenbarung gewertet: „Einen Geist der Betäubung (tardemah) hat der Ewige über euch ausgegossen. Eure Augen hat er verschlossen. Die Propheten und eure Häupter, die Seher, hat er verhüllt“ (Jesaja 29,10).

Mit dem hebräischen Verb (rdm) lässt sich allgemein der Zustand menschlicher Passivität umschreiben (Ri 4,21 und öfter). Wie beim metaphorischen Gebrauch von „Schlaf“ wird die Tatenlosigkeit negativ bewertet (Sprüche 10,5 und öfter).

Aramäischsprachige Visionsberichte im Danielbuch (Daniel 8,18 und 10,9) beschreiben mit dem entsprechenden Verb eine Unterwerfungsgeste (Proskynese) vor einem göttlichen Boten. Angesichts des Göttlichen überfällt den Menschen furchtbarer Schrecken, so dass er erstarrt und ohnmächtig wirkt. Der Religionswissenschaftler und Theologe Rudolf Otto nannte dies das mysterium tremendum. Es erinnert an die höfische Audienz des in seine Heimat zurückkehrenden Flüchtlings in der altägyptischen Sinuhe-Erzählung. Sie berichtet eine solche Geste vor dem Pharao, der die göttliche Sphäre irdisch repräsentiert. Der Pharao ist zwar nicht Gott selbst, man könnte aber von „zwei Naturen“ des Königs sprechen. Dieser Begriff entstammt der christlichen Dogmatik seit dem Konzil von Chalcedon (451 n.Chr.), als diese Jesus Christus in zwei Naturen dachte, die „unvermischt“ und „ungetrennt“ sein sollen – ein philosophischer Versuch, das Paradox mit Vernunft und Denken zu erfassen.

Last, but not least begegnet eine besondere Form bewusst intendierten Schlafes in antiken Berichten über Therapien und Orakel an Heiligtümern. Der Tempelschlaf (Inkubation) ist Zentrum umfassender Rituale. Umstritten ist, ob und wie in der Bibel Inkubationen literarisch vorkommen und ob dies im Alten Israel praktiziert wurde.

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Jörg Lanckau

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