Weniger ist anders

Plädoyer eines Bischofs für eine neue kirchliche Präsenz in der Fläche
Alte Grabkreuze an der Kirchenmauer in Zahren, Mecklenburg-Vorpommern. Foto: epd/ Rainer Oettel
Alte Grabkreuze an der Kirchenmauer in Zahren, Mecklenburg-Vorpommern. Foto: epd/ Rainer Oettel
Die Zahl der Kirchenmitglieder in Mecklenburg-Vorpommern wird immer geringer und die Fläche der einzelnen Kirchgemeinden immer größer. Was tun? Andreas von Maltzahn, Bischof im Sprengel Mecklenburg und Pommern der Nordkirche, stellt Modelle vor, wie die Gemeinde der Zukunft aussehen könnte.

Besuch bei einer jungen Pastorin im Probedienst. Mit leuchtenden Augen erzählt sie mir, wie in ihrem Hauptort das Gemeindeleben in Gang kommt: Sogar der Gottesdienstbesuch entwickelt sich positiv. Auch in zwei weiteren Kirchdörfern werden Menschen aktiv, wollen etwas bewegen. Doch dann die Sorgen: In den drei anderen Kirchdörfern, von den umliegenden Ortschaften ganz zu schweigen, liegt alles am Boden. „Eigentlich müsste ich mit ganzer Kraft dort hineingehen“, sagt sie, „aber dann könnte ich eben nur dort aktiv sein.“ Ich spüre, wie lähmend diese gefühlte Allzuständigkeit ist. Später auf der Rückfahrt: Nach einer halben Stunde nehme ich ein Ortsschild wahr - wir sind noch immer im Gebiet derselben Kirchengemeinde.

Seit 1990 haben wir in Mecklenburg mehr als vierzig Prozent aller Pfarrstellen streichen müssen. Und entsprechend groß sind die Gemeindebereiche geworden. Trotzdem wollen wir in der Fläche präsent bleiben. Es sind schon zu viele gesellschaftliche Leerräume entstanden, die Perspektivlosigkeit wachsen und fragwürdige Ideologien gedeihen lassen. Allerdings sind wir an eine Grenze gekommen: Gesellschaftliche Veränderungen in peripheren ländlichen Räumen dürfen von uns als Kirche nicht einfach mit einem weiteren Rückbau beantwortet werden. Das hieße, Strukturen hoffnungslos zu überdehnen und Haupt- und Ehrenamtliche zu überfordern.

Zusammenarbeit in der Region oder die Bildung von Großgemeinden waren bisher verfolgte Lösungsansätze. Gemeinden ohne klares Zentrum versuchen eine Präsenz in Zeit und Raum zu gewährleisten, indem sie verteilt über das Kirchenjahr an verschiedenen Orten Akzente des Gemeindeaufbaus setzen. Es gibt aber Gemeinden, die so ausgedehnt und an die Grenze der Gestaltungsfähigkeit gekommen sind, dass die bisherigen Strategien nicht mehr greifen. In Mecklenburg ermuntern wir daher Gemeinden, „Erprobungsregionen“ zu bilden.

Die Ziele, die uns leiten, sind so schlicht wie anspruchsvoll: In einer Erprobungsregion soll ein größerer Freiraum geschaffen werden, der es den haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitenden besser ermöglicht, die vorhandenen Ressourcen dafür einzusetzen, dass Menschen in Kontakt mit dem Evangelium kommen und bleiben. Erprobungsregionen sollen außerdem ermöglichen, Kirche im Nahbereich zu erleben und die verschiedenen Gaben der haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitenden zu größtmöglicher Entfaltung zu bringen.

Zwei Richtungen

Inhaltlich denken wir vor allem in zwei Richtungen: Zum einen sollen ehrenamtliche Professionen in der Gemeindeleitung gestärkt, vielleicht sogar neu konfiguriert werden. Zum anderen wollen wir neue Formen gemeindlichen Lebens strukturell ermöglichen.

Zugleich ist uns bewusst: Beide Wege können nur erfolgreich beschritten werden, wenn gleichzeitig ein Mentalitätswandel vollzogen wird, insbesondere im Rollenverständnis des Pastors, der Pastorin und der ehrenamtlichen Gemeindeleitung. Traditionell werden Geistliche immer noch als Verwalter eines Pfarramtes verstanden. Hier ist dringend ein Verständnis zu stärken, nach dem die Geschäftsführung der Kirchengemeinde dem gesamten Kirchengemeinderat obliegt. Das kann bedeuten, in größeren Gemeinden oder in Kirchenregionen Aufgaben der Geschäftsführung auch hauptamtlich von anderen als der Pastorin, dem Pastor versehen zu lassen. Genauso ist bei der Ausrichtung der Gemeindearbeit ein Bewusstseinswandel notwendig. Es kann nicht vordergründig darum gehen, Gemeindeleben dort mühsam aufrecht zu erhalten, wo es früher einmal möglich war, sondern es dort zu entwickeln, wo es heute möglich ist. Und wie könnte das in struktureller Hinsicht aussehen? Dazu im Folgenden drei konzeptionelle Ansätze:

Erstens: „Lokale Gemeinden“ unter dem Dach einer Kirchengemeinde. Das heißt: In größeren Kirchengemeinden gibt es mehrere Orte oder Ortsteile. Innerhalb einer solchen Kirchengemeinde könnten sogenannte lokale Gemeinden ohne Körperschaftsstatus entstehen, die durch eine Zuordnung zu Orten und städtischen Quartieren definiert werden. Sie können im Nahbereich eine größere Identifikationskraft entwickeln. Zugleich kann eine bessere Vernetzung und Zusammenarbeit mit den sich in gleicher Konstellation vorfindlichen Bürgergemeinden erreicht werden.

Die strategischen und rechtlich weitreichenden Aufgaben bei Finanzen, Personal und Bau in der Kirchengemeinde insgesamt werden vom Kirchengemeinderat verantwortet. Das gemeindliche Leben der lokalen Gemeinden wird dagegen von Ortsausschüssen verantwortet und gestaltet. Sie erhalten hierfür vom Kirchengemeinderat ein entsprechendes Budget, das eigenverantwortlich verwaltet wird. Die Ortsausschüsse schaffen informelle und formelle Kooperationsformen mit den diakonischen und ökumenischen Partnern sowie den zivilgesellschaftlichen Kräften in ihrem Bereich.

Zweitens: Abschied vom flächendeckenden Gemeindeaufbau - Kirchengemeinden mit Schwerpunkten. Das heißt: Um die Überforderung der haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitenden zu minimieren, kann in manchen Regionen zwischen unterschiedlichen Aufgabengebieten oder Gebieten unterschiedlicher gemeindlicher Präsenz unterschieden werden. Jeder Ort gehört zum Seelsorge- und Kasualgebiet einer Kirchengemeinde. Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sorgen dafür, dass überall Seelsorge und Kasualien auf Anfrage wahrgenommen werden können. Darüber hinaus werden - zeitlich befristet - Gemeindegebiete festgelegt, in denen über Kasualien und Seelsorge hinaus schwerpunktmäßig Gemeindeaufbau geschieht, weil sich dort Menschen zusätzlich zu den hauptamtlich Tätigen für ein vielfältiges Gemeindeleben engagieren.

Gottesdienste und andere Veranstaltungen finden zukünftig nur dort statt, wo die jeweiligen Gemeindeglieder oder Bewohner diese dezidiert wünschen und dafür Verantwortung mit übernehmen. Auf diese Weise sind Mitarbeitende der Kirchengemeinde von der Pflicht entbunden, flächendeckend - über Kasualien und Seelsorge hinaus - Gemeindeaufbau zu betreiben. Die Schwerpunktsetzung beziehungsweise die zeitlich begrenzte Bestimmung der unterschiedlichen Gebiete ist Aufgabe des Kirchengemeinderats im Einvernehmen mit dem zuständigen Propst oder der Pröpstin. Diese Festlegungen sollen öffentlichkeitswirksam erfolgen, um für die Verantwortlichen und die betroffenen Gemeindeglieder vor Ort eine hohe Transparenz zu erreichen.

Drittens: Neugründungen von „Gemeinden der Nähe“. Das heißt: Inspiriert von erstaunlichen Erfahrungen in der Ökumene - jedoch unter der Voraussetzung weitreichender Änderungen der rechtlichen Grundlagen - werden in einer Erprobungsregion Gemeinden neu zugeschnitten. Anders als bisher richtet sich die Größe einer Gemeinde nicht mehr nach den Mitgliederzahlen, Mitarbeiterstellen oder Gebäuden, sondern danach, dass sich eine pastorenunabhängige Gemeindeleitung mit bestimmten unverzichtbaren Kompetenzen findet. Hier sollen Ehrenamtliche in noch stärkerem Maße Leitungsverantwortung wahrnehmen können und dafür durch spezielle Fortbildungen gestärkt werden. Hauptamtlichen soll wieder stärker ein Arbeiten ermöglicht werden, das ihrer Profession entspricht.

Wo sich eine solche Gemeindeleitung findet, beschließt die Kirchenkreissynode über das Gebiet der neuen Gemeinde. Anschließend beruft der Propst oder die Pröpstin die Gemeindeleitung und führt sie im Gründungsgottesdienst der neuen Gemeinde ein. Diese „Gemeinden der Nähe“ werden von den mit dem Körperschaftsstatus verbundenen Rechten und Pflichten befreit. Sie bekommen einen Anteil an den Kirchensteuerzuweisungen abzüglich der Aufgaben, die durch den Kirchenkreis übernommenen werden. Die für diese Gemeinden zuständigen Pastoren sind nicht Teil der Gemeindeleitung. Ihren Aufgaben nach sind sie zwar Gemeindepastoren, aber beim Kirchenkreis angestellt. Sie werden freier für pastorale Aufgaben, insbesondere für die Begleitung und Fortbildung Ehrenamtlicher in mehreren solcher neugegründeten Gemeinden.

Um den angesprochenen Bewusstseinswandel in der Gemeindeleitung voranzubringen, sollen Kirchenälteste durch spezielle Fortbildungen befähigt werden, in stärkerem Maße als bisher Leitungsentscheidungen zu treffen - und sie dann auch umzusetzen. Pastorinnen und Pastoren kämen so wieder mehr dazu, pastorale Aufgaben wahrzunehmen. Je nach Aufgabenbereich soll es spezielle Fortbildungen geben - beispielsweise für Leitung, Finanzwesen, Bauen, Gemeinwesenarbeit und gemeindliche Diakonie. Wahrscheinlich werden sich nur selten ganze Teams aus einer Gemeinde für solche Fortbildungen finden. Aber auch Einzelne können ja ihre Kompetenz erweitern und so profilierter in der Gemeindeleitung mitarbeiten.

Das waren drei verschiedene Handlungsoptionen, und manche werden sich nicht sofort umsetzen lassen. Doch nicht nur für Zeiten des Pastorenmangels wird es wichtig sein, Gemeinde neu zu denken. Von den Charismen der Mitglieder her Gemeinde bauen zu wollen, steht uns Protestanten allemal gut an. Wir sind uns bewusst: All dies ist noch nicht mutig genug gedacht. Es wird nicht genügen, Gemeinde neu zu denken und ehrenamtliche Professionen zu stärken. Wir werden uns auch von Aufgaben trennen müssen - wo es geht von mittelgroßen Friedhöfen und noch mehr von Gebäuden. Entscheidend wird jedoch sein, ob wir ernsthaft erwarten, dass Gott uns verändern wird - und zwar, indem wir das Evangelium für unsere Zeit neu entdecken.

In der Theologischen Erklärung von Barmen ist der Auftrag formuliert, die Botschaft von Gottes freier Gnade „auszurichten an alles Volk“. Und das erfordert eine dialogisch-missionarische Grundorientierung von Gemeinde. Dabei geht es nicht um bloße Mitgliedergewinnung. Es geht vielmehr darum, selber das Evangelium (neu) verstehen zu lernen - und in der Folge um ein evangeliumsgemäßes Selbstverständnis als Kirche.

Dies drückt sich auch in der vorrangigen Option für die Armen aus: Mit dem Theologen Ernst Käsemann (1906-1998) bin ich überzeugt, dass „neben rechter Lehre und Verwaltung der Sakramente als drittes Kriterium die sichtbare Präsenz der Armen in Gemeinde und Gottesdienst nicht zu entbehren“ ist. Da steht noch einiges an Wandel aus, doch die Veränderungen sind schon im Gang. Entscheidend bleibt es, nah an der Sache Jesu zu sein.

Fulbert Steffensky sagt es so: „Die Kirche ist kleiner geworden, und die Kirche ist schöner geworden. Noch nie war ihre Aufmerksamkeit auf den Frieden und die gerechte Verteilung der Güter grösser als heute. … Die Kirchen haben in der westlichen Gesellschaft viel an Boden verloren. Es wird Zeit, dass wir zu unserem Trost wahrnehmen, dass einige Verluste der Kirche Gewinne des Christentums sind. Es ist die Zeit, da wir neu lernen, dass Gott unsere Zuversicht und Stärke ist, und nicht wir selbst, wir auch nicht als Kirche.“

Andreas von Maltzahn

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