In Vielfalt auf den Einen hin

Über den Reichtum der Gebetsformen in den christlichen Konfessionen
Abendgebet in Taizé. Foto: epd/ Matthias Rietschel
Abendgebet in Taizé. Foto: epd/ Matthias Rietschel
Von Exerzitien über die Glossolalie bis zu den „Perlen des Glaubens“ – Beten hat in der zweitausendjährigen Geschichte der Kirche in ganz unterschiedlichen Weisen Gestalt gewonnen. Peter Zimmerling, Professor für Praktische Theologie an der Universität Leipzig, unternimmt eine Tour d’Horizon durch die christlichen Gebetsformen.

Das Gebet stellt eine, wenn nicht die zentrale Äußerung christlicher Frömmigkeit dar. Nach der Bekehrung des Apostels Paulus heißt es von ihm: „Siehe, er betet“ (Apostelgeschichte 9,1). Und Friedrich Schleiermacher, der bedeutendste Theologe des 19. Jahrhunderts, stellte lapidar fest: „Fromm sein und beten, das ist eigentlich eins und dasselbige.“ Beten scheint darüber hinaus eine Art menschliches Existenzial darzustellen. In Notsituationen beten selbst viele Agnostiker, ja sogar Atheisten. In den einzelnen christlichen Konfessionen haben sich jeweils spezifische Formen des Gebets ausgebildet:

Martin Luther kritisierte die spätmittelalterliche Gebetspraxis in doppelter Hinsicht. Zum einen wandte er sich gegen das Missverständnis, dass das Gebet ein gutes Werk sei. Zum anderen zielte seine Gebetslehre auf das freie Gebet. Das zeigt besonders schön der Gebetskurs für seinen Barbier von 1535: „Meister Peter. Eine einfältige Weise zu beten“. Das Büchlein ist als Katechismusmeditation konzipiert. Obwohl die vorformulierten Texte der Tradition, Zehn Gebote, Glaubensbekenntnis und Vaterunser, die Grundlage des Gebetslehrgangs bilden, sollen sie zum freien Gebet führen. Angeregt vom Sprechen der vorformulierten Worte soll der Beter in einen Dialog mit Gott verwickelt werden. Er soll seine Anliegen in eigenen Worten vor Gott bringen und erleben, wie der Heilige Geist in seinem Herzen zu reden beginnt.

Im Anschluss an die Anleitung zur Meditation des Vaterunsers schreibt Luther: „Es kommt wohl oft vor, dass ich mich in einem Stück oder Bitte in so reiche Gedanken verliere, dass ich alle anderen sechs anstehen lasse. Und wenn auch solche reichen, guten Gedanken kommen, so soll man die anderen Gebete fahren lassen und solchen Gedanken Raum geben und mit Stille zuhören und sie beileibe nicht hindern; denn da predigt der Heilige Geist selbst, und ein Wort seiner Predigt ist besser als tausend unserer Gebete.“ Zum Gebet gehört für Luther ein Spielraum der Freiheit. Die Gebetstexte der Tradition dienen dem Beter als „Feuerzeug“, um im Herzen das Feuer des Geistes anzuzünden. Konsequenterweise hat Luther kein Buch mit vorformulierten Gebeten veröffentlicht. Auch sein „Gebetbuch“ von 1522 will zum eigenen freien Gebet anleiten.

Während in der nachreformatorischen Orthodoxie wieder Gebetbücher mit vorformulierten Gebeten die Gebets-praxis bestimmten, entdeckte der ältere Pietismus – parallel zur Vision der Aufklärung von der Befreiung des Menschen zur Mündigkeit – neu die pneumatische Dimension des Betens. Anstelle des vorformulierten Gebets trat das freie Gebet aus dem Herzen. Gebetsanleitungen wurden wichtiger als Gebetssammlungen. Philipp Jakob Spener, der Vater des Pietismus, machte die gegenseitige Fürbitte zum inhaltlichen Zentrum des Gebets. In ihr gewann jenseits von Gottesdienst und Hausandacht die Gemeinschaft derjenigen Gestalt, die mit Ernst Christen sein wollten. Zum Markenzeichen der Erweckten wurde die freie Gebetsgemeinschaft. Bis heute findet die Verbundenheit pietistisch geprägter Christen darin ihren sinnenfälligen Ausdruck.

Die Einzelexerzitien gehen auf den Gründer des Jesuitenordens Ignatius von Loyola (1491–1556) zurück. Ihnen liegt dessen Werkbuch für Exerzitienbegleiter zugrunde, „Geistliche Übungen“ genannt, das Ignatius zwischen 1522 und 1535 verfasste. Die Exerzitien stellen bis heute das heimliche spirituelle Kraftreservoir der katholischen Kirche dar und werden von vielen Priestern, Ordensleuten und engagierten Laien regelmäßig absolviert. Dadurch soll eine Vertiefung des persönlichen Glaubens und eine Veränderung des Lebens zur größeren Ehre Gottes erreicht werden.

Die Exerzitien können drei Tage bis vier Wochen dauern. Bewährt hat sich ein Zeitraum von acht Tagen. Der Exerzitant verbringt die ganze Zeit in der Stille, ohne mit anderen zu reden. Er betet beziehungsweise meditiert täglich mehrere Stunden. Die Zeit zwischen den Gebets- und Meditationszeiten dienen der Erholung und dürfen nicht mit anderen Beschäftigungen gefüllt werden. Zu den Einzelexerzitien gehört ein ungefähr halb- bis dreiviertelstündiges Gespräch pro Tag, in dem der Exerzitant dem geistlichen Begleiter Einblick in seine Erfahrungen gewährt. Das ermöglicht diesem, inhaltliche und methodische Hinweise für den nächsten Tag zu geben. Die Gruppe der anderen Exerzitanten bleibt – soweit vorhanden – im Hintergrund.

Eine Voraussetzung, um an Einzelexerzitien teilnehmen zu können, ist ein regelmäßiges spirituelles Leben, wozu Erfahrungen mit Gebet und Meditation gehören. Die weitere Bedingung ist eine normale psychische Belastbarkeit. Der Exerzitienbegleiter, eine Art spiritueller Coach, soll sich nach dem Willen des Ignatius nicht als Wegweiser verstehen, sondern als Wegbegleiter. Ziel ist, „dass der Schöpfer und Herr sich selbst seiner [des Exerzitanten] Seele mitteilt“ (Exerzitienbuch 15). Die Exerzitien sind ganzheitlich ausgerichtet: Einerseits soll der Exerzitant in den Meditationszeiten über sein bisheriges Leben nachdenken und es im Gebet vor Gott ausbreiten. Andererseits soll er biblische Texte imaginieren, also nicht bloß mit dem Verstand erfassen. Es geht darum, den Affekten, der Emotionalität und der Sinnlichkeit Raum zu geben und ihnen im Gebet nachzuspüren.

Der Rosenkranz ist das bekannteste und am weitesten verbreitete Volksgebet in der römisch-katholischen Kirche. Damit werden sowohl eine bestimmte Gebetsübung als auch die verwendete, ganz unterschiedlich gestaltete Perlenschnur bezeichnet. Vergleichbare Gebetsformen gibt es in fast allen Religionen. Vieles spricht dafür, dass der Rosenkranz ursprünglich aus Indien stammt. Dabei wurde nur die äußere Form der Übung, nicht aber die Gebetsformel übernommen. Beim Rosenkranzgebet in seiner vollen Form werden fünfzehn Mal zehn Ave Maria, der Gruß an Maria durch den Engel Gabriel in Lukas 1,28, gebetet, wobei jeder Dekade ein Vaterunser vorausgeht und eine Doxologie, „Ehre sei dem Vater…“, nachfolgt. In den Rosenkranz wird in jedes Ave-Gebet ein „Geheimnis“ Jesu Christi eingefügt. Das Christusereignis wird dabei in 15 Einzelgeheimnisse ausgefaltet. Jeweils fünf der Geheimnisse betrachten die Menschwerdung, die Passion und die Erhöhung. Es gibt auch eine reduzierte Alltagsgestalt des Rosenkranzgebetes, bei dem nur fünf Einzelgeheimnisse meditiert werden.

Hauch des Exotischen

Trotz, vielleicht auch wegen seiner Volkstümlichkeit ist der Rosenkranz nicht unumstritten geblieben. Die Aufklärung etwa sah in ihm eine rein formalistische Frömmigkeit. Dennoch erfreut sich der einzeln oder gemeinschaftlich gebetete Rosenkranz bis heute großer Beliebtheit. Dazu haben die Förderung durch die Päpste, das im 16. Jahrhundert eingeführte Rosenkranzfest (7. Oktober) und die Marienerscheinungen von Lourdes und Fatima wesentlich beigetragen. Überdies sind die doppelte Verbindung von Marien- und Christusfrömmigkeit und von äußerlichem Übungsgerät und geistigem Gebetsinhalt für viele Katholiken attraktiv.

Orthodoxe Spiritualität ist hierzulande immer noch von einem Hauch des Exotischen umgeben. Angesichts einer neuen Sehnsucht nach spirituellen Erfahrungen in der westlichen Kultur erregt heute vor allem die mystisch geprägte Spiritualität der Ostkirche Neugier. Mystische Zentralerfahrung der Orthodoxie ist die Schau des göttlichen Lichtes. So wie den Jüngern Jesus Christus auf dem Berg Tabor in verklärtem Licht erschien (Markus 9), sehnen sich orthodoxe Christen danach, das göttliche Licht zu schauen. Ein wichtiges Mittel auf dem Weg dahin ist das Jesus- oder Herzensgebet. Es lautet in seiner am weitesten verbreiteten Form: „Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner“, dessen wichtigstes biblisches Vorbild das Zöllnergebet aus Lukas 18,13 darstellt. Während des ersten Teils des Gebets findet das Einatmen, während des zweiten Teils das Ausatmen statt. Als Methode des immerwährenden Gebets wird das Jesusgebet erstmals im 13./14. Jahrhundert bei den Athosmönchen in Nordgriechenland erkennbar. Gregor Palamas (1296–1359), Bischof von Thessaloniki, verteidigte die Praxis des Herzensgebets erfolgreich gegen Kritiker, die sich an der psychosomatischen Prägung des Gebets störten. Verbreitet wurde die Praxis des Jesusgebets durch die Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlichten „Aufrichtigen Erzählungen eines russischen Pilgers“. Sie sind der Bestseller des Jesusgebets und liegen heute in vielen Übersetzungen und Auflagen vor. Vor allem durch die „Aufrichtigen Erzählungen“ hat das Jesusgebet auch in den westlichen Kirchen im vergangenen Jahrhundert, verstärkt nach dem Zweiten Weltkrieg, eine zunehmende Anzahl von Freunden gefunden.

Auch wenn es eine Reihe von Berichten aus dem Verlauf der Kirchengeschichte über das Auftreten der Glossolalie beziehungsweise Zungenrede gibt, ist das Phänomen doch erst durch die Pfingstbewegung seit Anfang des 20. Jahrhunderts zum Gegenstand größeren Interesses geworden. In der klassischen Pfingstbewegung erhielt die Glossolalie durch ihre Verknüpfung mit der Geistestaufe quasi sakramentale Bedeutung. Sie wurde zum äußeren Zeichen für das Erfülltsein mit dem Geist Gottes. Anders die innerkirchlichen charismatischen Bewegungen: Im Verlauf der weiteren Entwicklung kritisierten sie mehr und mehr das pfingstlerische Interpretationsschema von Geistestaufe und Zungenrede.

Meist wird die Glossolalie unter Handauflegung durch einen anderen Glossolalen empfangen: oft unmittelbar danach, gelegentlich in zeitlichem Abstand. Daneben ist eine Form von Einübung möglich, ohne dass die Glossolalie wie eine normale Fremdsprache erlernbar ist.

Jesu Aussage von der Anbetung des Vaters im Geist wird im Rahmen der pfingstlich-charismatischen Bewegungen neu interpretiert. Danach handelt es sich um eine unmittelbar vom Heiligen Geist gewirkte Anbetung. In der Zungenrede erscheint Jesu Forderung nach einer Anbetung Gottes im Geist am besten erfüllt, weil hier der Geist selbst unmittelbar im Menschen bete, ohne dass der Verstand beteiligt sei.

Psychologen deuten die Glossolalie meist so, dass darin Unterdrücktes ausgesprochen werden kann. Und Charismatiker betonen, dass die Glossolalie psychodynamisch betrachtet einen positiven Wert besitze. Sie eröffne einen Zugang zu unbewussten Dimensionen, ermögliche verdrängten Impulsen einen Zugang zum Bewusstsein und stelle eine regressive Wiederaufnahme kindlicher Verhaltens- und Erlebnisformen dar, wodurch eine Verarbeitung dieser Erfahrungen möglich würde.

Dadaismus als säkularisierte Zungenrede

Linguistisch gesehen ist die Glossolalie keine Sprache im traditionellen Sinne. Sie verfügt weder über eine Grammatik, noch über eine festgelegte Bedeutung ihrer Worte. „Glossolalie ist also sprachlich Wiederaufnahme eines primitiveren Sprachniveaus, sozial Rückkehr zum egozentrischen Sprachgebrauch, psychisch aber Regression auf ein aduales (dh. unmittelbares) Welterleben“, meint der Neutestamentler Gerd Theißen. Der praktische Theologe Rudolf Bohren (1920–2010) nannte sie den „Sabbat der Sprache“, in der die Möglichkeiten der Sprache überholt werden: „Sie ist entfesselte Sprache.“ Er verglich die Zungenrede mit moderner Sprachbemühung und bezeichnete den Dadaismus als eine „säkularisierte Zungenredebewegung“.

Walter Hollenweger, der im August verstorbene Altmeister der Erforschung pfingstlich-charismatischen Christseins, hat darauf hingewiesen, dass besonders für Menschen, die in vorliterarischen Kontexten leben, die Glossolalie der Weg ist, sich in der Öffentlichkeit artikulieren zu lernen. Die Glossolalie hat hier eine demokratisierende Wirkung. Gerade in von Armut geprägten gesellschaftlichen Schichten der „Dritten Welt“ erfüllen die Pfingstkirchen durch die Glossolalie die Funktion, namen- und sprachlosen Menschen eine Stimme zu verleihen.

Die Glossolalie ist kein übernatürliches Phänomen, kein dem Glauben entnommenes objektives Zeichen des Geisteswirkens, wie die ursprüngliche Pfingstbewegung annahm. Erst der Kontext, in dem sie ausgeübt wird, und die Intention, mit der sie praktiziert wird, lässt erkennen, ob es sich bei der Glossolalie im Sinne des Apostels Paulus um eine Gabe des Geistes Gottes handelt oder nicht.

Für die ungebrochene Vitalität des Christentums spricht, dass sich immer wieder neue Formen des Gebets entwickeln. In der jüngeren Vergangenheit hat das Gebet von Taizé mit seinen charakteristischen meditativen Gesängen die Aufnahme ins Evangelische Gesangbuch geschafft. Und die „Perlen des Glaubens“ – ein von der Form her dem Rosenkranz verwandtes „Übungs-Gerät für die Seele“, das in der lutherischen Kirche Schwedens entwickelt wurde – hat im Protestantismus große Verbreitung gefunden.

Literatur

Peter Zimmerling, Evangelische Mystik, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2015, 283 Seiten, Euro 30,–.

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