Neue Wege

Die Rechtfertigungslehre muss Protestanten und Juden nicht trennen
Die ehemalige evangelische Schlosskirche von Cottbus ist seit einem Jahr Synagoge. Foto: dpa/ Jörg Carstensen
Die ehemalige evangelische Schlosskirche von Cottbus ist seit einem Jahr Synagoge. Foto: dpa/ Jörg Carstensen
Vor dem Hintergrund der EKD-Erklärung zu „Martin Luther und die Juden“ zeigt der Tübinger Reformationshistoriker Volker Leppin, der auch der EKD-Kammer für Theologie angehört, wie Protestanten im Dialog mit den Juden an Einsichten Luthers festhalten und gleichzeitig zu neuen gelangen können.

Angesichts des Reformationsjubiläums wird verstärkt über Martin Luther und sein Verhältnis zu den Juden gestritten. Dabei spielt auch die „Kundgebung“ mit dem Titel „Martin Luther und die Juden“ eine Rolle, die die ekd-Synode vor einem Jahr verabschiedet hat. Denn in ihr geht es um das Eingemachte des Luthertums, die Rechtfertigungslehre. Mit der Einsicht, dass diese auch mit einem strukturellen Antijudaismus zusammenhängen könnte, tut sich manche(r) nicht so leicht wie mit der Ablehnung der späten Judenschriften des Reformators, die für heutige Lutheraner selbstverständlich ist. Die Forschung der vergangenen Jahre hat zu deren Einordnung wichtige Beiträge geleistet. Nicht aber bei der Rechtfertigungslehre. Und genau in diese Wunde hat die EKD-Synode den Finger gelegt, und dies zu Recht. Denn Luther hat seine Gnadentheologie in scharfen Gegensätzen entwickelt. Noch bevor er die augustinische Rechtfertigungsterminologie in das Zentrum seines Denkens rückte, hatte er jüdische Glaubensformen verurteilt, parallel zu seiner Kritik an weiten Bereichen spätmittelalterlicher Frömmigkeit. Selbst durch die Mystik und Frömmigkeitstheologie geprägt, sah Luther in jenen Glaubenshaltungen Versuche des Menschen, Gott durch Äußerliches zu beeindrucken, ja, ein Geschäft mit ihm zu machen. Die polemische Deutung der jüdischen wie der christlichen Frömmigkeit seiner Zeit als „Werkgerechtigkeit“ bahnte sich schon in Luthers ersten Psalmenvorlesung an. Und es kann – da setzt das Problem ein – kein Zweifel daran bestehen: Die erst nach und nach erlangte Auffassung, dass die Rechtfertigung auf Seiten des Menschen nichts, gar nichts voraussetzt, sondern allein durch den von Gott geschenkten Glauben vermittelt wird, konnte Luther erst durch schroffe Abgrenzung gewinnen und entfalten.

Aber was der Reformator bekämpfte, entsprach der Wirklichkeit nur zum Teil. Die Forschung ist sich einig, dass schon Luthers „Disputation gegen die scholastische Theologie“ von 1517 diese keineswegs umfassend in den Blick nahm. Dass das Mittelalter nicht einlinig unter einen Begriff zu pressen ist, sondern von vielfältigen Polaritäten und Spannungen geprägt war, wird immer deutlicher. Und dass auch zentrale Texte der mittelalterlichen Theologie von Luthers Angriffen nur begrenzt getroffen wurden, lässt sich bei einem genaueren Blick in die mittelalterliche Literatur kaum bestreiten. Da bedarf es schon eines höheren Aufwands, um festzustellen, wo genau ein Satz wie der folgende aus lutherischer Sicht zu kritisieren ist: „Das Gesetz aber, das man das Glaubensgesetz nennt, mag Werke befehlen, aber durch Glauben erreicht es, dass sie geschehen. Diese Werke folgen der Gerechtigkeit. Nicht nämlich kommt die Gerechtigkeit aus ihnen, sondern sie sind aus der Gerechtigkeit“. Dieser Satz steht im Römerbriefkommentar des Petrus Lombardus, des Meisters der Sentenzen aus dem 12. Jahrhundert. Sein Kommentar gehörte zu den meist gelesenen des Mittelalters – und ein eifriger Benutzer hieß Martin Luther. Bei genauerem Hinsehen auf den Kontext findet man schon Unterschiede zwischen dem Reformator und seinem mittelalterlichen Vorgänger – und doch: Dass die Rede von „Werkgerechtigkeit“ hier nicht so recht passt, bedarf keiner langen Erklärung.

Gnade und Gesetz

Noch etwas komplexer als bei den innerchristlichen Gegnern stellt sich die Sachlage bei Luthers Auseinandersetzung mit dem Judentum dar. Hier folgte er etablierten chiffrenhaften Wahrnehmungsmustern. Dabei gehörte er mit seiner Schrift: „Dass Jesus Christus ein geborner Jude sei“ – wie der große Hebraist Johannes Reuchlin in den frühen Zwanzigerjahren des 16. Jahrhunderts – durchaus zu denen, die trotz klarer theologischer Ablehnung bereit waren, sich auf ein friedliches Miteinander mit den Juden einzulassen, in der Hoffnung, sie so für das Christentum zu gewinnen. Aber die Ablehnung des Judentums beruhte bei Luther auf Vorstellungen, die nach heutigem Verständnis an dessen theologischen Grundlagen vorbeigeht. Der von dem renommierten US-Theologen Ed Parish Sanders entwickelte Gedanke des „Bundesnomismus“ hat den Blick dafür geschärft, dass ein Verständnis des alttestamentlichen Gesetzes unter der Vorgabe „Werkgerechtigkeit“ an dessen Intentionen vorbeigeht. Die Bindung des Gesetzes ist für Juden vielmehr die Folge von Gottes Gnade.

Es wäre anachronistisch, Luther vorzuwerfen, dass er das nicht sah. Aber ein heutiger Umgang mit ihm kann und darf die mit seiner Theologie verbundenen Abgrenzungen nicht unbesehen übernehmen, ohne sich der Gefahr auszusetzen, einen Antijudaismus salonfähig zu machen. Wer meint, er könne immer noch einen „Gegensatz“ zwischen evangelischem Christentum und Judentum konstruieren, unterläuft, was im christlich-jüdischen Dialog und in der historischen Forschung erreicht worden ist. Sie hat längst die wechselseitige Abhängigkeit von Christentum und Judentum in ihrer Entstehung erkannt.

Der Umstand freilich, dass Luther seine innerchristlichen wie seine jüdischen Gegenüber nicht angemessen wahrnahm, besagt noch nicht, dass die Form der Rechtfertigungslehre, die er gefunden hat, obsolet geworden wäre. Die scharfe Betonung des Sola fide, „allein durch den Glauben“, ist die zentrale Erkenntnis, die die theologische Identität des Protestantismus bestimmt. Innerhalb der theologischen Rede von Gottes Gnade drückt sie besonders klar aus: Allein die Gnade ist Grund für das Heil des Menschen. Aber manchmal muss man daran erinnern, dass für Luther und die lutherischen Bekenntnistradition damit völlig selbstverständlich verbunden war, dass das Gnadenverhältnis zu Gott Früchte des Glaubens hervorbringt. Daher geht fehl, wer das „allein durch den Glauben“ so versteht, als wäre die Zuwendung zum Nächsten von der Gnadenwirkung Gottes gelöst. Vielmehr gehört beides zusammen. Nur die Zuordnung soll eindeutig sein. Die Werke begründen das Heil nicht, sondern sind immer und ausschließlich nur Folge des Glaubens. In der Konkordienformel sind die Lutheraner 1577 darin übereingekommen, dass das von Gott gegebene Gesetz eine Hilfe für ein glaubensgemäßes Leben sein kann: der sogenannte Dritte Gebrauch des Gesetzes nach dem politischen Gebrauch, durch den die gemeinschaftsschädlichen Wirkungen der Sünde unterbunden werden, und dem theologischen Gebrauch, der dem Menschen seine Sünde aufweist.

Abwägung statt Abgrenzung

Ein solches Rechtfertigungsverständnis ist ein anderes als das jüdische und das heutige römisch-katholische. Letzteres hat die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (ger) festgehalten, die Vertreter des Vatikans und des Lutherischen Weltbundes 1999 in Augsburg unterzeichnet haben. Zugleich aber hat sie deutlich gemacht, dass diese Unterschiede nicht kirchentrennend sein müssen – und keinen Gegensatz bedeuten. Die Strittigkeit der ger liegt weniger an der moderaten Deutung des Verhältnisses der Rechtfertigungslehren als an der kirchlichen Folgenlosigkeit der Erklärung. So müssen auch Kritiker und Kritikerinnen der ger sich nicht dem Gedanken verschließen, die Hermeneutik der Abwägung, die dort statt einer Hermeneutik des Gegensatzes angewendet wurde, auch auf das Judentum anzuwenden.

Dabei ist allerdings klar: Der Punkt, an dem sich Christentum und Judentum unterscheiden, ist das Bekenntnis zu Jesus dem Auferstandenen als dem Christus. Ihm folgen nicht allein die Kirchen, die aus der Reformation hervorgegangen sind, sondern, seit sich Judentum und Christentum in einem allmählichen Prozess voneinander trennten, alle christlichen Konfessionen. Aber mit dem Judentum teilen sie sich das Alte Testament. Und so haben sie das Zeugnis vom gemeinsamen Gott aufgenommen, den Glauben an den einen Gott, der durch die Propheten gesprochen hat und auf den sich Juden und wie Christen beziehen. Auf ihn einen Gegensatz zu projizieren, hieße die Zusammengehörigkeit des Christentums mit seinen Wurzeln im Glauben des Alten Bundes zu zerreißen. Die Interpretationsgemeinschaften, die sich auf die Hebräische Bibel beziehen, finden ihren ersten Unterschied in Christus, aufgrund dessen das, was für die einen die eine Schrift bleibt, für die anderen zum Alten Testament geworden ist. Doch sie bleiben in und durch den Vater Jesu Christi geschwisterlich aufeinander bezogen.

Die spezifisch lutherische Interpretation des Unterschiedes liegt in der Rechtfertigungslehre. Hier kann der durch die innerchristliche Ökumene vorangetriebene Verständigungsprozess ansetzen und für das Judentum in einer Hermeneutik der Abwägung weitergedacht werden, die in Anerkennung des Eigenen und des Anderen Brücken baut. Das „allein durch Glauben“ schließt für evangelisches Verständnis Werke als konstitutiven Teil der Rechtfertigung aus. Aber es schließt nicht aus, dass auch solche Formen des Glaubens als Gnadentheologie verstanden werden, die den Werken des Menschen als Folge von Gottes Gnade einen Platz in der Rechtfertigung lassen. Das gilt für den römisch-katholischen und – im Horizont einer angemessen verstandenen jüdischen Bundestheologie – für den jüdischen Glauben. Auch hier steht der Dank für das gnädige Handeln Gottes am Anfang und im Vordergrund, der Mensch wird hineingenommen in einen Gnadenbogen. Dies ist gewiss nicht ein lutherisches Verständnis von Rechtfertigung. Aber die Frage ist, ob das als Gegensatz wahrgenommen werden muss oder ob das heutige Luthertum zu komplexeren Deutungen fähig ist.

Begrenzte Einsicht

Im evangelischen Glauben sind wir davon überzeugt, dass das „allein durch Gnade“ im „allein durch Glauben“ konsequenterweise seinen Ausdruck findet. Aber wir können erkennen und anerkennen, dass die Grundüberzeugung, nach der alles Heil allein von Gott kommt, auch in anderen Glaubensweisen ihren Ausdruck findet. Wer Unterschiede feststellt, kann und darf die Richtigkeit der eigenen Auffassung vertreten und für die eigene Haltung werben. Aber er oder sie wird dies auch im Wissen um die Begrenztheit der eigenen Einsicht tun. Bewegungen in der Paulusexegese – wie bei Professor Sanders – lassen mindestens erkennen: Luthers Paulusverständnis ist nicht das einzig mögliche. Theologisch-hermeneutisch heißt dies: Auch lutherische Theologie sollte die Offenheit entwickeln, den Kern der eigenen Botschaft, dass Gott allein unser Heil begründet, in anderen Ausdrucksformen wiederzuerkennen. Das ermöglicht die Verständigung mit dem römischen Katholizismus. Und man sollte von vorneherein auch nicht die Möglichkeit abweisen, dass sich auf dieser Basis auch das jüdisch-christliche Gespräch weiter entwickeln kann, indem es den Satz des Apostels Paulus neu nachvollzieht: „Hat denn Gott sein Volk verstoßen? Das sei ferne!“

Wer meint, die eigene Identität dadurch sichern zu müssen, dass er den Gegensatz zu anderen in den Vordergrund schiebt, verfehlt die Botschaft, um die es doch gerade jetzt gehen sollte: Dass Gottes Gnade ein unverdientes Geschenk ist. Diese reformatorische Grundeinsicht kann, darf und sollte gerade im kommenden Jahr das Verhältnis der evangelischen Kirchen zu anderen Konfessionen und Religionen bestimmen. Denn so wird ein neues Miteinander möglich.

Volker Leppin

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Volker Leppin

Volker Leppin (geboren 1966) ist Professor für Kirchengeschichte in Tübingen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen beim Mittelalter, der Reformationszeit und der Aufklärung, in den Themen Scholastik und Mystik und bei der Person und Theologie Martin Luthers.


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