Unbestimmtheit, Gleichgültigkeit, Teilnahmslosigkeit – so lässt sich der negativ konnotierte Begriff der Indifferenz verstehen. Mit eben diesem Begriff wird das Teilnahmeverhalten in der fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung qualifiziert – polarisierend neben dem Engagement der Hochverbundenen. Ist damit dann der Zustand erreicht, den Ernst Troeltsch schon vor gut hundert Jahren mit den Worten „[d]ie Seelen der Völker entgleiten den Kirchen“ beschrieben hat? In dem dann die kirchlichen Funktionen an „Schule, Literatur, Staat und Vereinswesen“ übergegangen sind? Und wenn diese alten Fragen erneut beantwortet werden, wie soll sich „die Kirche“ dazu verhalten?
So könnte man den roten Faden beschreiben, der die neun Beiträge durchzieht, die ursprünglich 2014 als Tagungsbeiträge bei einer Veranstaltung in Berlin entstanden sind. Sie widmen sich der Wahrnehmung von Kirchenmitgliedschaft, dem Pfarrberuf und der Reform der Kirche. Kirchenleitende, diakonische und netzwerktheoretische Sichten auf die Untersuchung runden schließlich den Band ab.
Gerhard Wegner fragt in seinem Beitrag danach, wie sich Kirchenmitgliedschaft reproduziere. Seine Antwort wirkt wie eine Bestärkung und damit Entlastung bisherigen kirchlichen Handelns: nämlich durch „eine lokale kirchlich religiöse Praxis vor Ort“ und eine „öffentlich kirchliche religiöse Praxis“. Einer Sicht auf funktionale Äquivalente von Religion erteilt er jedoch eine klare Absage, weil diese die Rückbindung an Religion verloren hätten. Die Gesellschaft sei nicht religionsfähig und damit die theologische (liberale) Frage obsolet, wie Religion in die Kirche integriert werden könne.
Provokant hat Eberhard Hauschildt seinen Beitrag mit der Aussage betitelt: „Die Kirche ist das Pfarramt“. Doch das habe noch nie gestimmt, resümiert er schlussendlich. Die Nähe und Distanz zur Kirche spiegelt sich auch in der Sicht auf die Pfarrerin, den Pfarrer, sie sind das personale Gesicht der Kirche. Die Mediengesellschaft fordert auch hier ihren Tribut, im Ranking der kirchlichen „A-Promis“ sei die Reihenfolge Luther, Jesus, Käßmann und Gauck – Kirchenleitende spielten keine Rolle. Religion und der Sinn des Lebens seien Gesprächsinhalte in der Partner- und Freundschaft, nicht in seelsorgerlichen Gesprächen – jedenfalls bei der Mehrheit. Der Ausblick in die zukünftige Mangelsituation gerät zum Appell einer „Qualitätsoffensive“: Nicht die Häufigkeit, aber die Qualität der Begegnung entscheidet. Weniger Seelsorge, dafür öffentliche Deutung von Glauben, Religion und Kirche – qualitativ hochwertig. Die Nichtpfarrer/innen müssten gefördert werden, weil sie die neuen Gesichter der Kirche sein werden – bunt und (leider) kaum steuerbar.
Blickt man auf das programmatische Dauerprojekt der evangelischen Kirche, die Kirchenreform, dann könnte man den Beitrag von Thies Gundlach dem „Neo-Realismus“ zuordnen. „Kirche der Freiheit“ (2006) habe die Möglichkeiten zwar zu optimistisch beurteilt, aber die „Therapievorschläge“ seien sinnvoll. Die Kränkung durch den kirchlichen Relevanzverlust in der Gesellschaft schade der „Seele“ der Kirche. Eine öffentliche Theologie, die religiöse Themen repräsentiert, richte sich an die Mehrheit der Kirchenmitglieder, die nun mal distanziert seien. Das Ende des „liberalen Paradigmas“ auszurufen, bedeute, diese Mehrheit nicht anzuerkennen. Stattdessen könne man auf den Begriff der Lebensform verweisen, der durch soziale Praktiken, Verhaltensweisen und Haltungen qualifiziert sei. Diesen christlich zu beschreiben und entsprechende kirchliche Unterstützungen als „Kirche vor Ort“ zu leisten, könne zukunftsweisend sein. Der kirchliche Wandel ist der Wandel seiner Mitglieder, der kontrovers interpretiert werden kann. Ob dabei ein modifiziertes „Weiter so!“ oder ein „neuer“ Blick hilfreich ist, beantwortet die Zukunft nicht nur in Zahlen, sondern auch am inneren Halt, den der Glaube unverfügbar dem Einzelnen schenkt.
Jens Beckmann
Jens Beckmann
Dr. Jens Beckmann ist Pastor der Nordkirche und Theologischer Vorstand der Evangelischen Perthes-Stiftung e.V. in Münster.