Kopfkino in Fahrt

Kulturelles Multitasking in Hannover und Hamburg
Foto: pixelio/Dietmar Meinert
Keine Frage, das war in sich gelungen und technisch perfekt. Viel Applaus! Doch die ketzerische Frage bleibt offen: Was soll das Ganze?

Vor zehn Jahren kam der Film „Das Parfüm“ in die Kinos und wurde ein großer Erfolg. Nicht ein ganz so großer wie das gleichnamige Buch von Patrick Süskind, das in 48 Sprachen übersetzt und über zwanzig Millionen mal verkauft wurde, aber fast: Innerhalb eines Jahres sahen den Film in Deutschland 5,6 Millionen Menschen. Damit gehört „Das Parfüm“ zu den 15 erfolgreichsten deutschen Kinofilmen.

Kürzlich war er auf einer großen Leinwand im Sendesaal des NDR in Hannover wieder zu sehen. Das Besondere: Die Filmmusik wurde live dazu gesungen und gespielt vom Mädchenchor Hannover, von den Herren des Knabenchors Hannover, von der Sopranistin Anna Bürk und der NDR Radiophilharmonie. Das Ganze lief unter dem Label „Filmkonzert - Live to Projection“. Damit wir uns richtig verstehen: Die versammelten Klangkörper spielten genau die Filmmusik, die sowieso zum Film gehörte. Der Originalsprechton der Darsteller erklang über die Lautsprecher und akustisch kunstvoll ausgeklügelt über Mikros verstärkt die Musizierenden - so was kann man ja heute. Keine Frage, das war in sich gelungen und technisch perfekt. Viel Applaus!

Doch die ketzerische Frage bleibt offen: Was soll das Ganze? Der wunderbare und dabei überaus verstörende Film über den 1738 in Paris geborenen Jean-Baptiste Grenouille, der über einen phänomenalen Geruchssinn verfügt und für die Kreation des besten Parfüms aller Zeiten zum vielfachen Frauenmörder wird, braucht es nicht, dass sich der gebannte Zuschauer und -hörer auf einmal fragt: „Wo sitzen sie denn, die Harfen, deren Klänge ich gerade höre?“ Das lenkt bloß ab, und in solchen Zwiespalt der Aufmerksamkeit wurde der Zuschauer und -hörer ein ums andere Mal gestürzt wenn das Auge zwischen Leinwand und den darunter sitzenden Musizierenden hin- und her wanderte. „Wenn ich die Wahl hätte, wäre dies der einzige Weg, wie mein Film in Zukunft aufgeführt würde“, wird Regisseur Tom Tykwer im Programm des Abends zitiert. Einspruch, Euer Ehren, das war Multitasking der sinnlosen Sorte.

Wenige Tage zuvor bei „La Passione“ in den Hamburger Deichtorhallen: Bachs Matthäuspassion erklingt unter Kent Nagano. Alle 136 Ausführenden sind in weiß gekleidet, und darüber hinaus gibt es noch viel mehr zu sehen. Während Bachs „Großer Passion“, vollzieht sich in dem etwa 50-70 Meter großen Raum zwischen Musikschaffenden und Publikum ein spezieller 18-Stationen-Kreuzweg aus Szenen und Objektkunst, die der italienische Konzeptkünstler Romeo Castellucci entwickelt hat, und während der Aufführung ist Multitasking Pflicht. Der Künstler bietet uns seine Assoziationen, um unsere zu wecken - das ist Sinn der Sache, oder anders gesagt: Unser Kopfkino soll anspringen.

Das Bizarrste aus Casteluccis Reigen ist der Moment, als ein riesiger Original-Reisebus (12,2 Tonnen, 55 Sitzplätze) nach der Abendmahlsszene auf der Seite liegend über die Bühne gezogen wird. Der Zuschauer sieht so die vier Räder auf sich weisen, und auf einmal durchzuckt ihn, zumindest mich, der Gedanke: „Wenn das wahr wäre, läge ich tief unten in der Erde!“ Und dazu tönt Bachs Sopranstimme: „Wiewohl mein Herz in Tränen schwimmt, da Jesus von mir Abschied nimmt“. Damit diese produktiven Irritationen in Gang kommen, sollte man die Matthäuspassion gut kennen. Denn zum endlich-mal-besonders-abgefahren-die-Matthäuspassion-hören ist Castelluccis „La Passione“ ungeeignet. Man muss die fortlaufend fließende Matthäuspassion phasenweise zurückstellen können, um die anderen Eindrücke zu empfangen und zu verarbeiten.

Ein elitäres Konzept? Sicherlich. Aber nach drei Stunden ohne Pause (!) ist das Kopfkino in Fahrt, und wie. Das war, fürwahr, Multitasking der sinnvollen Sorte.

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