Das bevorstehende Reformationsjubiläum 2017 löst Aktivitäten aus, die die Reformation und den Reformator Martin Luther in ganz unterschiedlichen Perspektiven erkennbar werden lassen. Dabei kommt es immer wieder auch zu Kontroversen. Es ist eben ein Unterschied, ob man an publikumswirksamen Events interessiert ist und sich deshalb auf vereinfachende Formeln und Personalisierungen beruft, oder ob man die weit verzweigten historischen und kulturellen Wirkungen der Reformation in den Mittelpunkt stellt, oder ob das Jubiläum ein Anlass sein soll, den Glauben zu verlebendigen und neu zu erschließen.
Der Band Der Reformator Martin Luther 2017 vereinigt 15 inhaltsreiche Aufsätze, die 2013 bei einem Symposium des Historischen Kollegs in München gehalten wurden. Herausgeber ist Heinz Schilling, emeritierter Professor für Geschichte, der wichtige Studien zur Geschichte der Konfessionalisierung veröffentlicht hat. In den Beiträgen werden die Spannungsfelder, in denen die Erinnerung an Luther steht, deutlich artikuliert: Gegenüber einer Tendenz, sich Luthers nur in legitimatorischer Weise zu bemächtigen, werden die historischen Sachverhalte differenziert und ehrlich angesprochen, zum Beispiel in dem Aufsatz von Thomas Kaufmann zu Luthers Äußerungen über Türken und Juden. Luthers Wirkungen in der politischen und gesellschaftlichen Freiheitsgeschichte werden in ihrer Ambivalenz dargestellt, ohne zu verschweigen, dass viele Wirkungen unbeabsichtigt waren. Gegenüber einer Kritik, die unreflektiert heutige Maßstäbe an Luther anlegt, wird darauf gedrungen, Luther aus seiner Zeit heraus zu verstehen, ohne deshalb die Auswirkungen bis in die Gegenwart zu vernachlässigen. Luther ist eben weder nur Mittelalter noch einfach Anbruch der Neuzeit.
Die Texte tragen so zur Differenzierung und Vertiefung des Verstehens des Reformators und der Reformation bei. Jeweilige thematische Schwerpunkte mögen auf den ersten Blick eher begrenzt erscheinen, zum Beispiel auf Papst Leo X. oder Lukas Cranach, aber die spezifische Untersuchung erweist sich jeweils als bedeutungsvoll für ein differenziertes und tiefenscharfes Gesamtbild der Reformation. So zeigt etwa Götz Rüdiger Tewes, wie das vorrangige Interesse des aus dem Geschlecht der Medici stammenden Papstes Leo X. an seinen finanziellen und dynastischen Vorteilen und seine Fixierung auf Frankreich der beginnenden Reformation einen unerwarteten Bewegungsspielraum verschafft haben.
Georg Schmidt beleuchtet die tiefe Ambivalenz einer Stilisierung Luthers als eines deutschen Freiheitshelden. Dorothea Wendebourgs Durchgang durch die Geschichte der Jahrhundertfeiern der Reformation von 1617 bis 1917 beleuchtet eindrucksvoll, wie das Erinnern mit Tendenzen der jeweiligen Zeit verwoben ist. Damit liefert sie wichtige Gesichtspunkte für ein selbstreflexives Feiern bei uns. Notger Slenczka beschreibt die theologische Wende, die die Reformation bedeutet, als einen Vorgang, der den Menschen und die Subjektivität in den Mittelpunkt stellt. Luther unternimmt dafür eine Relecture des Bernhard von Clairvaux und stößt gerade so – dialektischerweise im Rückgriff – das Tor zur Neuzeit auf.
Wem eindeutige und schmissige Formulierungen liegen, der kommt nicht auf seine Kosten. Wer aber historisch fundiert die Gegenwartsbedeutung Luthers differenziert verstehen will, dem sei die Lektüre unbedingt empfohlen.
Die geschichtswissenschaftliche Perspektive dominiert, aber gerade so werden die theologischen Aspekte der Beiträge von Thomas Kaufmann, Dorothea Wendebourg und Notger Slenczka erkennbar.
Friedrich Hauschildt
Friedrich Hauschildt
Friedrich Hauschildt ist Präsident i.R. des Amtes der VELKD in Hannover.