Zwischen Bagdad und Beirut

Pfarrerausbildung im Schatten des Terrors gegen die Christen
Trotz allem zuversichtlich: Rima Nasrallah, Dozentin für evangelische Theologie in Beirut. Fotos: Katja Dorothea Buck
Trotz allem zuversichtlich: Rima Nasrallah, Dozentin für evangelische Theologie in Beirut. Fotos: Katja Dorothea Buck
Die Gemeindeglieder fliehen in Scharen, das Gehalt ist niedrig, und wenn man Pech hat, ist die Kirche am nächsten Tag nur noch ein Trümmerhaufen. Pfarrer oder Priester zu sein, ist in weiten Teilen des Nahen Ostens ein schweres Los. Trotzdem entscheiden sich auch dort junge Menschen für den Dienst in der Kirche. Die Journalistin Katja Dorothea Buck hat sie in Beirut besucht.

An den Tag, als sie ihren Eltern erklärte, dass sie Theologie studieren wolle, kann sich Rima Nasrallah noch gut erinnern. „Meine Mutter bekam einen Nervenzusammenbruch“, sagt die evangelische Theologin, die seit einem Jahr an der Near East School of Theology (NEST) in Beirut unterrichtet. „Meine Eltern hätten gerne gesehen, dass ich meine ursprünglichen Berufspläne verwirkliche.“ Nach einem ambitionierten (und nicht ganz billigen) Ingenieur-Studium hatte Rima Nasrallah beste Aussichten auf einen gut bezahlten Job. „Das Theologiestudium ist im Nahen Osten gesellschaftlich nicht gut angesehen. Gerade in der Mittel- und Oberschicht denken viele, dass das nur was für diejenigen ist, die es anderswo zu nichts bringen. Als Pfarrer verdient man ja nicht viel.“ Dass für sie als Frau selbst diese Option nicht in Frage kommen würde, war der resoluten Libanesin damals sehr bewusst. Frauenordination gibt es im Nahen Osten nicht, auch nicht in den evangelischen Kirchen.

Sie habe sich seinerzeit für die Theologie entschieden, weil sie einfach zu viele große Fragen an das Leben hatte, sagt die Enddreißigerin. „Ich bin im Bürgerkrieg aufgewachsen, habe als Kind die schlimmsten Dinge gesehen und erlebt. Die Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach Gerechtigkeit, nach dem Bösen in der Welt haben mich von klein auf umgetrieben und nie losgelassen. Ich wollte etwas wirklich Wichtiges für mein Leben.“

Frauen mit einem Abschluss in Theologie arbeiten im Nahen Osten in der Regel als Katechetinnen oder Religionslehrerinnen. In vielen Gemeinden liegt auch die Jugendarbeit in weiblicher Hand. Rima Nasrallah hat einen anderen Weg gewählt. Nach ihrem Studienabschluss in Beirut ging sie mit ihrem Mann, einem holländischen Pfarrer, in die Niederlande und promovierte dort mit großem Erfolg. Eine niederländische Universität bot ihr eine interessante Stelle an. Das Ehepaar lebte mit den beiden Kindern in einem schönen Einfamilienhaus im Grünen. Eigentlich hätte alles so weitergehen können. „Wir wollten aber zurück in den Libanon, wollten hier unseren Dienst leisten“, sagt sie und schaut ein wenig spöttisch an die Wohnzimmerdecke, wo bereits zum wiederholten Male an diesem Abend das Licht ausgegangen ist. Im Innenhof springt der Generator an. „Jetzt leben wir hier in einer viel zu kleinen Wohnung und kämpfen mit dem libanesischen Alltag“, sagt sie mit einem ironischen Lächeln. Für eine größere Wohnung in Beirut würden ihr Gehalt und das ihres Mannes, der als Seelsorger an der armenische Haigazian-Universität eine Stelle bekommen hat, nicht ausreichen. „Nein, wir bereuen nicht, dass wir gekommen sind“, sagt sie. Im Gegenteil. „In Europa ist in der Theologie schon so gut wie alles gesagt. Hier im Nahen Osten dagegen gibt es noch so viel Neues zu entdecken.“

Die NEST in Beirut bildet den theologischen Nachwuchs für evangelische Gemeinden im Irak, Syrien, dem Libanon, Jordanien und Palästina aus. Neben einem theologischen Seminar in Kairo ist die NEST die einzige evangelische Hochschule im Nahen Osten, wo protestantische Christen eine Minderheit in der Minderheit sind. Die Trägerkirchen der NEST – die Armenisch-Evangelische Kirche, die Presbyterianische Synodenkirche im Libanon und in Syrien, die anglikanische Diözese von Jerusalem und dem Heiligen Land sowie die Lutherische Kirche von Jordanien und dem Heiligen Land – gehören zu den kleinsten Kirchen im Nahen Osten und werden seit Jahrzehnten immer kleiner. Mit Ausbruch der Umbrüche im arabischen Raum vor fünf Jahren und der zunehmenden Unsicherheit für religiöse Minderheiten schrumpfen die Gemeinden immer schneller. Die NEST spürt dies an sinkenden Studentenzahlen. Ihre Trägerkirchen schicken immer weniger Studenten, weil sie ihnen später keine Anstellung garantieren können. Zurzeit liegen die Studierendenzahlen im zweistelligen Bereich. Genaue Angaben will niemand an der NEST machen. Auch hier sind Zahlen ein Politikum.

Rima Nasrallah bedeutet die theologische Arbeit mit jungen Menschen, die später einmal die Verantwortung für eine Gemeinde übernehmen, sehr viel. Erst kürzlich sei ein Absolvent von seiner Kirche nach Kessab geschickt worden, jenem kleinen Ort im Nordwesten von Syrien, der im Frühjahr 2014 von dschihadistischen Milizen überfallen wurde. Alle Bewohner des rein christlichen Städtchens flohen. Als sie nach vier Monaten zurückkehren konnten, waren alle Kirchen zerstört und an den Hauswänden stand. „Wir sind gekommen, um Euch abzuschlachten.“ Viele haben den Libanon mittlerweile verlassen. Wer als junger Pfarrer nach Kessab geschickt wird, hat nicht gerade das große Los gezogen. „Unser Student hat geweint, als er gehört hat, was seine Kirche von ihm will“, sagt Rima Nasrallah.

Die Situation der Pfarrer vor Ort ist den Verantwortlichen an der NEST sehr bewusst. Seit kurzem machen sie deswegen auch theologische Angebote für diejenigen, die bereits seit vielen Jahren ihren Dienst in den Gemeinden tun. Erst kürzlich kamen 60 Gemeindepfarrer zu einem Seminar mit dem Thema „Der Pfarrdienst in Zeiten von Krieg und Krise“. Die meisten waren aus Syrien und dem Irak angereist, um über ihre Arbeit zu sprechen – aber auch um einmal Abstand zu bekommen von ihrem chaotischen und gefährlichen Alltag in Bagdad, Aleppo, Damaskus oder in Landgemeinden im Grenzgebiet zum Islamischen Staat. „Sie sind zum Teil am Ende ihrer Kraft, kämpfen mit Depressionen, fragen sich, ob das alles noch Sinn macht“, sagt Rima Nasrallah. „Zu oft haben sie erlebt, dass das, was sie über Jahre aufgebaut haben, zerstört wird und wieder zerstört wird, sobald man es mühsam noch einmal aufgebaut hat.“ Zum Teil seien bereits 80 Prozent der Gemeindeglieder geflohen. Die Pfarrer müssten sich jetzt vor allem um diejenigen kümmern, die nicht fliehen können, um die Armen, Alten und Kranken, die oft kein Geld mehr für Medikamente oder Essen haben. Sie müssen sich die Frage stellen, was sie tun und sagen werden, wenn Gemeindeglieder zu den Waffen greifen. Ein Pfarrer aus Syrien habe bei dem Seminar von einem Mann aus seiner Gemeinde erzählt, der einen Dschihadisten erschossen hatte, als dieser vor seiner Tür stand und verlangte, dass man ihm die Töchter des Hauses übergeben solle. „Wir Theologen müssen auch auf solche Fragen eine Antwort finden“, sagt Rima Nasrallah. Vor den Ortspfarrern habe sie Hochachtung. „Das hält niemand durch, der sich nicht wirklich berufen fühlt.“

Die schwere Bürde des Pfarrdienstes in einer Krisenregion ist kein evangelisches Spezifikum. Gleiches erleben orthodoxe, koptische, maronitische, armenische, chaldäische, assyrische, nestorianische, katholische oder wie auch immer konfessionell orientierte Gemeindegeistliche im Nahen Osten.

Was aber genau bedeutet es, berufen zu sein? Für Alain Boulos lässt sich das rational gar nicht erklären. Es sei wie eine tiefe Leidenschaft. Der 44-Jährige lebt seit fünf Jahren im maronitischen Priesterseminar von Ghazir in den libanesischen Bergen. Der Weg dorthin ist steil. In unzähligen Kurven windet sich die Straße von der Küste hoch, bis in einer Serpentine plötzlich das große Eingangstor der altehrwürdigen Einrichtung auftaucht. Hier bildet die maronitische Kirche im Libanon ihre Priester aus. Alain Boulos wird voraussichtlich in zwei Jahren eine Gemeinde anvertraut bekommen. Bis dahin wird er weiterhin nur einmal in der Woche seine Frau und die beiden 17 und acht Jahre alten Kinder sehen dürfen. In der maronitischen Kirche dürfen Priester verheiratet sein.

Vor seinem Eintritt ins Priesterseminar hat Alain Boulos ein ganz anderes Leben geführt. Er war Leiter eines international tätigen Verlages, hat gut verdient und einige Jahre in England gelebt. Seine Entscheidung für das Priesteramt hat für die kleine Familie gravierende Folgen. Sie müssen seither mit dem Geld auskommen, welches die Mutter als Sekretärin verdient. „Man verliert im materiellen Sinn“, sagt er, „bekommt aber auch viel zurück.“ Die Familie werde von Freunden unterstützt, für das Schulgeld der Kinder kämen Privatpersonen auf, die davon berührt seien, dass er seiner Berufung folge. „Wir erleben als Familie eine Solidarität des Glaubens“, sagt er und fügt hinzu, dass er sehr froh sei, dass seine Frau und die Kinder seine Entscheidung mittrügen.

Die Eltern von Edgar El-Tansi dagegen tun sich nach wie vor schwer damit, dass ihr jüngster Sohn Priester werden will. Als der heute 26-Jährige ihnen vor einigen Jahren seine Entscheidung mitteilte, waren sie geschockt. Der junge Mann hatte gerade sein Betriebswirtschaftsstudium erfolgreich abgeschlossen und die Eltern sahen ihn bereits eine Karriere in der freien Wirtschaft machen. „Sie konnten mir ihren Segen nur mit großer Bitterkeit geben“, erzählt Edgar El-Tansi. Dass so viele Christen die Hoffnung auf eine Zukunft in der Region aufgeben, treibt ihn um. Als Priester müsse er sich später die Frage stellen, wie er die Menschen motivieren kann, trotz aller Gefahr und Perspektivlosigkeit zu bleiben. „Wer aufgibt, geht den ersten Schritt in Richtung Tod“, sagt er. Oder anders formuliert: Bleiben heißt lebendig bleiben.

Das Leben im Priesterseminar unterliegt strengen Regeln, ähnlich denen in einem Kloster. Stundengebete strukturieren den Tag, eindeutige Hierarchien das Zusammenleben. Derzeit leben 152 Männer in dem imposanten Sandsteinbau mit den dicken Mauern. Darunter sind Banker, Anwälte, Ärzte und Ingenieure. Noch nie gab es so viele Priesteramtsanwärter wie heute. Und die Warteliste ist lang.

Eindeutige Hierarchien

Die Maroniten sind die älteste Religionsgemeinschaft im Libanon. Ihre Kirche geht auf den Mönch Maron zurück, der im fünften Jahrhundert gelebt hat. Seit 1445 ist sie mit der Römisch-Katholischen Kirche uniert. Weltweit gibt es etwa sechs Millionen Maroniten, davon lebt noch eine Million im Libanon. Das entspricht einem knappen Drittel der Gesamtbevölkerung des Landes. Als größte christliche Gemeinschaft stellen sie laut Verfassung den Präsidenten des Landes. Aber auch sonst sind die Maroniten stark in der Politik vertreten. Schon immer haben sie bei Fragen zur Zukunft des Landes kräftig mitgemischt. Wer erinnert sich nicht an die christlichen Milizen, die während des libanesischen Bürgerkriegs (1975–1989) mit der Waffe ihre Interessen durchzusetzen versuchten?!

Monsignore Issam Abi Khalil, seit 15 Jahren Rektor des Priesterseminars in Ghazir, kennt diesen Teil der Geschichte gut. Er habe selbst vier Jahre lang in den Reihen der Milizen gekämpft, gibt er unumwunden zu. Ja, mit der Waffe im Arm. Erklärend fügt er dann aber hinzu, dass er damals natürlich noch nicht Priester gewesen sei. Ursprünglich habe er als Architekt gearbeitet. „Der Krieg hat mir meine einzige Schwester genommen. Viele junge Leute sind unnötig gestorben.“ Irgendwann sei er nicht mehr um die Sinnfrage herumgekommen. Nach langem, innerem Kampf habe er sich für das Priesteramt entschieden. „Der Krieg im Libanon hat uns viel gelehrt“, sagt er. Dass sich heute so viele für das Priesteramt interessierten, freue ihn. Eine einfache Erklärung gebe es dafür aber nicht. „Ich glaube aber, dass es Menschen berührt, wenn andere den christlichen Glauben authentisch leben.“

Genau das ist die Frage, die Alain Boulos und Edgar El-Tansi sich immer stellen. Was heißt es, den Glauben bis in die letzte Konsequenz zu leben? Gerade jetzt und heute, wo im Nahen Osten das Christentum vielerorts für immer zu verschwinden droht? Ohne große Umschweife kommen die beiden Seminaristen auf das Martyrium zu sprechen, einem Thema, das sie offensichtlich schon oft untereinander diskutiert haben. „Unsere Kirche ist eine Märtyrerkirche“, sagt Edgar El-Tansi nicht ohne Stolz und fügt hinzu: „Die Kirche lebt vom Blut der Märtyrer.“ In westlichen Ohren klingen solche Sätze befremdlich. Deswegen erklärt Alain Boulos: „Wir wollen leben und wollen dem Leben dienen, nicht dem Tod. Aber wenn wir gezwungen werden, im Sterben unseren Glauben zu bezeugen, dann hängen wir nicht am Leben. Wir vertrauen auf Gott.“

Katja Dorothea Buck

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Katja Dorothea Buck

Katja Dorothea Buck ist Religionswissenschaftlerin und Politologin und arbeitet seit mehr als 20 Jahren zum Thema Christen im Nahen Osten, Ökumene und Dialog.


Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Kirche"