Kreatives Verstehen

Die Deutung des Abendmahls sollte man nicht den Theologen überlassen
Tischabendmahl im sächsischen Wehlen. Ein Abendbrot schließt sich an. Foto: epd/ Rainer Oettel
Tischabendmahl im sächsischen Wehlen. Ein Abendbrot schließt sich an. Foto: epd/ Rainer Oettel
Die evangelische Abendmahlspraxis hat sich, auch unter dem Einfluss des Kirchentages, sehr geändert. Trotzdem ist dieses Sakrament vielen Kirchenmitgliedern immer noch fremd. Für Christian Albrecht, der an der Universität München Praktische Theologie lehrt, lassen sich ein neues Verständnis und eine neue Praxis nur durch eine breite Diskussion in der Kirche erreichen.

Taufe und Abendmahl sind die beiden Sakramente des evangelischen Christentums, rituelle, sprachlich ausgedeutete Handlungen, in denen zeichenhaft zum Ausdruck kommt, dass die Glaubenden und Jesus Christus zusammengehören. Dogmatische Aufmerksamkeit und liturgische Sorgfalt sind beiden gewiss. Aber sie werden sehr unterschiedlich erlebt.

In der Taufe wird der Täufling in die christliche Gemeinschaft aufgenommen und Jesus Christus anvertraut. Das ist ein fröhlicher Vorgang mit leicht verständlichen zeichenhaften Elementen. Sein Zweck wird im Vollzug anschaulich.

Das Abendmahl ist weniger eingängig. Es öffnet sich dem frommen Erleben nicht ganz so leicht, weil es komplexe, hoch aufgeladene, teils auch zwiespältige Vorstellungen verbindet. Es hat seinen Ursprung im Dank für Jesu Tod und Auferweckung und für das Selbstopfer Jesu Christi, das darin wirksam wird, dass es Gemeinschaft und Versöhnung mit Gott, aber auch unter den Glaubenden schafft. Das ist ganz schön viel auf einmal.

Das Abendmahl hält an der physischen Präsenz Jesu Christi in Brot und Wein fest. Das ist schwer zu erklären, aber höchst real. Es ist nicht für jeden da, denn Andersgläubige, Kleingläubige, Ungläubige, Unwürdige sind ausgeschlossen. Und werden sie trotzdem eingeladen, betont das, ungewollt, ihren zweitrangigen Status umso mehr.

Das Abendmahl ist mit dunklen Assoziationen an Tod, Blut und Menschenopfer verknüpft, die aber irgendwie nicht bedrohlich gemeint sein wollen. Es ist mit den Ängsten besetzt, sich falsch zu benehmen oder in falscher Haltung teilzunehmen und sich das Mahl selber zum Gericht zu essen. Das soll man ernst nehmen, aber irgendwie auch nicht zu ernst. Dementsprechend verunsichert findet die Feier fast immer in getragener, gedrückter Atmosphäre statt. Trotz vieler Bemühungen gelingt es nur selten, dass in der Abendmahlsfeier der einladende, öffnende, Leben schenkende, Freiheit stiftende Geist des Christentums als Funke überspringt und jene frohe Stimmung der Versöhntheit und Erlöstheit schafft, die sich jeder Teilnehmer eigentlich wünscht. Lange hat sich eine nicht zu unterschätzende Traditionslinie konservativer lutherischer Abendmahlsfrömmigkeit gehalten. Das Abendmahl steht hier im Zentrum des Bewusstseins, Sünder vor Gott zu sein, der Vergebung zu bedürfen und sie im Sakrament zu empfangen. Diese Frömmigkeit schuf eine eigene Aura der Abendmahlsfeier: man schätzte neben der allgemeinen Beichte die Einzelbeichte, empfand das Knien beim Empfang und die Entgegennahme der Hostie auf der Zunge als angemessenen Ausdruck der Ehrfurcht vor der Gegenwart Christi. Und aus Sorge vor unwürdigem Empfang nahm man nur selten teil. Die Abendmahlsfeier erhielt so einen würdevollen Ernst. Aber zugleich wurde sie immer unzugänglicher für volkskirchlich fromme Erwartungen an die Abendmahlsfeier, in denen Aspekte des Gemeinschaftserlebens, Nähe, persönliche Wärme und Geborgenheit wichtig waren.

Vor allem in den Siebzigerjahren bemühte man sich, den Spannungen auf den Grund zu kommen, die zwischen starken dogmatischen Aufladungen der Abendmahlslehre und liturgischen Befrachtungen der Abendmahlspraxis einerseits und der unübersehbaren Unzufriedenheit vieler Abendmahlsteilnehmer andererseits herrschten. Warum fühlten sie sich vielfach beklommen und bedrückt, obwohl theologisch und liturgisch doch alles korrekt zuging?

Befragungen von Abendmahlsteilnehmern, aber auch Experimente mit neuen Formen auf Kirchentagen, in Taizé, Gemeinden und Gruppen zeigten, dass sich dem frommen Gemüt sehr viel mehr Eindrücke auf der emotionalen und sinnlichen Ebene vermittelten als gutgemeinte dogmatische Argumentationen und liturgische Aktionen wahrhaben konnten. Welch eine Vielfalt von Empfindungen, Erlebnissen und Erwartungen vermochte die Abendmahlsfeier freizusetzen. Und welche Breite der Deutungen: Hoffnungen auf eine bessere, gerechte Welt, Sehnsüchte nach Schutz und Behütung, Visionen gemeinsam getragenen Leids und von allen geteilten Lebens, Gespür für Einsamkeit und ihre Aufgehobenheit, Ängste vor dem abgründigen Gott und Vorgefühle ihrer gemeinschaftlichen Bewältigung – all das und vieles andere meldete sich.

Künstler, Kulturwissenschaftler und Werbestrategen haben schon lange das emotionale Anregungspotenzial entdeckt, das die Fülle des im Abendmahl versammelten Bild- und Erzählmaterials enthält. Sie spielen unbefangen und kreativ mit dem Beieinander von liturgischem Material, religiösen Grundgedanken, theologischen Deutungen sowie natürlichen und präsenten Elementen: Brot, Wein, Leib, Blut. Mit Leonardo da Vincis Abendmahl und deren Aktualisierungen durch Matthias Koeppel, Andy Warhols „Last Supper“, Guy Peellaerts Illustrationen des „Rock-Dreams“, Thomas Manns und Heinrich Heines literarischen Verarbeitungen, Jochen Hörischs Analogsetzung von Geld und Abendmahl und nicht zuletzt der unvergesslichen umstrittenen Werbekampagne Otto Kerns, der das letzte Mahl Jesu als Versammlung jeanstragender Männer inszenierte, sind nur die bekanntesten Motivanknüpfungen genannt. Untersuchungen über das Abendmahl als Thema der Kunst und der Werbung sind inzwischen Legion.

Unzählige Assoziationen

Die genannten Beispiele belegen nicht nur den Reichtum der Assoziationen, die das Abendmahl freisetzt, sondern vor allem dessen Interpretationsoffenheit. Es verträgt Transpositionen in ganz verschiedene Kontexte und Gegenwarten, auch die deutende Anpassung an unterschiedliche Bedürfnisse.

Dem frommen Bewusstsein eröffnet sich dadurch die Einsicht: das Abendmahl versteht sich nicht von selbst, sondern drängt auf Interpretation. Es muss ausgelegt werden. Denn erst durch die Deutung wird es mit Leben und mit Sinn erfüllt. Das Abendmahl ist eine äußere Form, die darauf angewiesen ist, mit Inhalt gefüllt zu werden. Seinen Sinn hat es nicht von allein, sondern gewinnt ihn dadurch, dass die Feiernden ihn für sich finden und hineinlegen. Selbstverständlich spielen dabei Überlieferungen und Traditionen eine zentrale Rolle. Aber sie werden erst in der Aneignung lebendig und wirksam für die Erschließung von Sinn und Bedeutung des Abendmahls.

Es ist gegenwärtig relativ offen, welchen Gehalt das Abendmahl hat – für den individuellen Glauben, die volkskirchliche Frömmigkeit, die Gemeinden, die Kirche als Ganze. Das Hauptproblem des Abendmahls besteht zur Zeit nicht in der Zulassung zum Abendmahl und der Abendmahlsgemeinschaft zwischen den Kirchen oder in Spezialthemen wie der theologischen Deutung des Opfers. Das Hauptproblem, das all diesen viel diskutierten Fragen voraus liegt, besteht vielmehr darin, welche Bedeutung das Abendmahl hat oder haben könnte für diejenigen, die es feiern.

Darüber muss geredet werden – in Gemeinden, Gruppen, Kirchengemeinderäten. Diejenigen, die das Abendmahl feiern oder feiern wollen, sollten es im Gespräch zu ihrer eigenen Sache machen. Man kann das nicht einfach anderen überlassen. Das wäre schon dem Charakter des Abendmahls ganz unangemessen. Man kann es ja nicht passiv über sich ergehen lassen wie vielleicht einmal eine Predigt oder einen Segen. Die Teilnahme am Abendmahl ist vielmehr eine Handlung, in die sich der Einzelne bewusst, willentlich, aktiv, ja sogar körperlich hineinbegibt. So wenig man sich hier vertreten lassen kann, so wenig sollte man sich für unzuständig halten, wenn es darum geht, den Sinn und die Bedeutung des Abendmahls im Gespräch neu zu entdecken – für sich selbst, die Gemeinde und die Kirche.

Vor allem sollte man die Interpretation nicht allein denjenigen überlassen, die sich von Berufs wegen mit der Deutung des Abendmahls befassen, den Dogmatikern und Liturgiewissenschaftlern. Ihre Vorschläge zu Verständnis und Vollzug des Abendmahls treffen seit Jahrzehnten nicht mehr das religiöse Bedürfnis in seiner volkskirchlichen Breite. Wir akademischen Theologen wissen jedenfalls entschieden zu wenig über die Bedeutung, die diejenigen dem Abendmahl beilegen, die es gemeinsam feiern. Von ihnen werden Vorgaben für die anschließende dogmatische und liturgische Durchdringung durch die Fachtheologen benötigt.

Neue Deutungen

Über das Abendmahl müssen diejenigen sprechen, die es gemeinsam feiern, Abendmahlsliebhaber und Abendmahlsskeptiker, Hochverbundene und Distanzierte, Fromme und Zweifler, Alte und Junge. Was geschieht im Abendmahl mit mir und für mich, was bedeutet es mir und welche Feierformen können dem entsprechen? Zunächst muss eine Bestandsaufnahme gemacht werden. Rationale Widerstände und Verständnislosigkeit, Gefühle des Ausgeschlossenseins und der Enttäuschung, Scham und Ekel müssen ebenso zur Sprache kommen dürfen wie Hoffnungen, Sehnsüchte und Erwartungen sowie biblische Überlieferungen, dogmatische und liturgische Traditionen. Anschließend können neue Deutungen gewonnen werden.

Das Abendmahl ist zunächst eine Angelegenheit des Einzelnen. Das Evangelium wird ihm geradezu körperlich zu Eigen gemacht. Vielleicht ist das sogar ein Schlüssel zum Neuverständnis des Abendmahls. Hier wird sinnfällig: Das Evangelium gilt dem individuellen Menschen, dessen individuellem Leben in seiner Unvollständigkeit und Ambivalenz, mit allem, was ihm in seinem Leben gewährt und verwehrt wird. Evangelium und individuelles Leben werden wechselseitig zum Medium der Entschlüsselung. Aus dem eigenen Leben heraus versteht man das Evangelium, und aus dem Evangelium heraus das eigene Leben. Natürlich ist und bleibt das Abendmahl eine Sache der gemeinschaftlichen Feier. Aber zu ihr kann es erst werden, nachdem sein Sinn im Herzen des Einzelnen gefunden und aufgegangen ist.

Es gibt im Protestantismus religiöse Handlungen, deren Sinn im Vollzug evident ist oder gar im Vollzug besteht, zum Beispiel das Singen und das Beten. Die Feier des Abendmahls gehört dagegen, zumindest derzeit, nicht dazu. Weder sein Sinn noch sein Vollzug verstehen sich von selbst. Beides muss in der aneignenden Interpretation, im kreativen Verstehen neu gewonnen werden.

Lasst uns reden, miteinander, und lasst vor allem diejenigen an der volkskirchlichen Basis zu Wort kommen. Die konservativen Lutheraner des 19. und 20. Jahrhunderts haben vorgemacht, wie man das Abendmahl durch Auslegung und eine entsprechende Veränderung der Praxis zur eigenen Sache machen kann. Darin gilt es ihrem Beispiel zu folgen. Lasst uns reden, damit das Abendmahl unser Abendmahl wird.

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Christian Albrecht

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