Auf dem Cover der neuen Argerich-Schallplatte (Schallplatte, jawohl!) sieht man La Martha als junge Frau am Flügel. Ein schlichtes, weiß gepunktetes Kleid, die Augen geschlossen, die Hände auf dem Schoß. Ein wunderschönes Bild. Aber sie sieht doch ganz anders aus heute, Martha Argerich, gerade 75 Jahre alt geworden. Chopin, steht auf dem Cover, und: „The legendary 1965 recording“: Warner Classics hat den Geburtstag zum Anlass genommen, um etwas längst Überfälliges zu tun. Argerich, damals frisch gekürte Preisträgerin des Warschauer Chopin-Wettbewerbs, hatte in den berühmten Abbey-Road-Studios Chopins b-moll-Sonate aufgenommen, außerdem die Mazurkas 36 bis 38, die Nocturne Nr. 4, das Scherzo Nr. 3 und die Polonaise Nr. 6. Die Aufnahmen blieben unveröffentlicht, weil vertragliche Verpflichtungen zu einer anderen Plattenfirma übersehen worden waren.
Erst 34 Jahre danach kann man sich selbst ein Urteil bilden, als die Abbey-Road-Sessions auf CD erschienen. Und nun, Anno 2016, kann der Musikfreund sie endlich auf dem Medium hören, für das sie eigentlich gedacht waren, dem Vinyl. Natürlich, wie es sich gebührt, in einer 180-Gramm-Edelausgabe mit Klappcover. Hätten sich die Plattenfirmen in den Achtzigerjahren solche Mühe mit der LP-Produktion gegeben, wäre uns der unselige Siegeszug digitaler Klangformate vielleicht erspart geblieben.
Die Londoner Aufnahme ist tatsächlich fantastisch. Im leisen Part des Scherzos meint man zu sehen, wie die Hämmer auf die Saiten tupfen, zu spüren, wie der Klang das Holz des Flügels in Schwingung versetzt. Heutige Produktionen haben mehr Brillanz und Trennschärfe, aber sie wirken mitunter auch kalt, nicht greifbar. Ganz anders hier: Das ist purer Klang, ganz und gar natürlich. Menschlich.
So wird die Schallplatte zur hautnahen Begegnung mit einer außergewöhnlichen Künstlerin, die damals den ersten Gipfel ihrer Karriere erklommen hatte. Eine jugendliche Unbekümmertheit paart sich mit den Erfahrungen einer Frau, die mit 24 bereits eine mehrjährige Krise überwunden hatte. Vital und voller Aufbruchsstimmung klingt auch dieser Chopin: Die Argerich spielt voller Liebe und Weichheit, dann aufbrausend, frei, beinahe hemmungslos. Aber eben nur beinahe. Dass die Jubilarin heute so gut wie keine Solokonzerte mehr gibt, bedauert der Hörer oder die Hörerin nach diesem Erlebnis umso mehr. Fraglos jedoch ist das ein Teil ihrer Besonderheit: Dass sie damals wie jetzt ihren ganz eigenen Weg gegangen ist, scheinbar unangefochten von äußeren Erwartungen. Nachträglich herzlichen Glückwunsch auch dazu, Martha Argerich!
Ralf Neite