Tränen lügen nicht

Die Muße, der Calvinismus und die Musik
Ich habe mich ergeben. Ich bin aufgestanden, runter an den See spaziert.“ Foto: dpa/ Tomas Rodriguez
Ich habe mich ergeben. Ich bin aufgestanden, runter an den See spaziert.“ Foto: dpa/ Tomas Rodriguez
Muße ist was für Weicheier oder Gewerkschaftler, aber nichts für Calvinisten, dachte der Theologieprofessor und Autor Klaas Huizing. Wie soll man denn sonst in einer Welt, die dem Beschleunigungszwang unterliegt, klarkommen? Doch dann tappte auch er in die Falle.

Und tschüss. Ein elektronisches Rohrpostrauschen. Das pdf geht auf Reisen. Seit Weihnachten bis zum Ende des Semesters nur ein Familienwochenende in einem Hamburger Hotel verbracht. Als Calvinist hatte mir der Name des Hotels gefallen: 25hours. Ich greife zu meinen Post-it-Zetteln. Zwei Vorträge schreiben. Zu Maarten ´t Hart und Medienethik. Und einen Artikel zur Muße für die zeitzeichen. In zwei Wochen kommen die Fahnen des Buches vom Verlag. Knapp 600 Seiten. Und das Namensregister muss vorbereitet werden. Ich habe also einen Samstag und Sonntag frei. Länger schlafen, notiere ich. Relaxen. Samstag nach dem langen Frühstück: joggen. Endlich den bedrohlichen Haufen Zeit durchsehen. Mindestens Feuilleton und die Seite „Glauben und Zweifeln“. Bummeln in der Stadt. Brauche dringend neue T-Shirts. Dann Kino. Wenn ich in eine Vorstellung um 17.30 Uhr gehe, kann ich noch eine Theateraufführung mitnehmen. Essen muss ich irgendwo einschieben. Absacker trinken unten am See. Gerne auch zwei. Sonntag lange schlafen. Aspirin schlucken. Vielleicht mal wieder in den Gottesdienst. Zwei Fragezeichen. Mit den Töchtern und Enkeln telefonieren. Brunchen plus Galeriebesuch. Radfahren. Essen gehen oder Tatort? Beides. Ich schaue auf die Uhr. Wenn ich nicht endlich mit dem Essay zu Maarten ´t Hart anfange, muss ich einen Punkt von der Liste streichen. Am besten den Punkt Relaxen. Ich bin Calvinist. Also, bitte. Relaxen! Oder chillen! Das habe ich nicht gelernt. Muße muss Sünde sein. Da bin ich mir sicher. Hier hilft nur ein calvinistischer Trick. Alles lesen, was zum Thema verfügbar ist. Studieren ist keine Sünde. Meine Oma war sich in dieser Frage allerdings nicht ganz so sicher. Auf meinem Lesezettel steht: Beschleunigung, Stress, Burn-Out, Muße.

Hier eine klitzekleine Auswahl meiner Leseergebnisse. Für Schnellleser ohne Muße die Ergebnisse vorab, den Rest kann man eilig überblättern. Also: Der Calvinismus ist offenbar nicht ganz unschuldig an der Zunahme der Stresskrankheiten. Hysteriker und Alarmisten halten inzwischen auch die Inseln der Muße wie Eros, Sport, Spiel und Kunst für leistungsorientiert verseucht. Für Inseln des vorigen Tages. Hardcore-Calvinisten werden dankbar nicken. Innerweltlich gibt es keine Rettung. Der Aufsatz war schon fertig, als ich einen schnellen Blick in Maarten ´t Hart, ebenfalls gelernter Calvinist, werfen wollte und ich mit ihm in die Mußefalle tappte. Ich schäme mich etwas für den letzten Teil. Der Lektor, ein unverbesserlicher Anhänger der Muße, will nicht darauf verzichten. Dabei lief alles darauf hinaus, Mußeanhänger für Weicheier oder Gewerkschaftler zu halten.

Nochmal von vorn, jetzt mit Muße: In einem 800 Seitenwälzer - das ist für ein Welterklärungsbuch sehr übersichtlich, bin ich fündig geworden: Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Für Rosa ist der „Kern der Moderne beziehungsweise der Modernisierung ein bis heute andauernder Prozess der Dynamisierung (oder des Immer-schneller-in-Bewegung-Setzens) der materiellen, sozialen und geistigen Verhältnisse. [.] Die Trias Wachstum, Beschleunigung und Innovationsverdichtung lässt sich dabei als zeitliche (Beschleunigung), sachliche (Wachstum) und soziale (Innovationsverdichtung) Dimension eines einzigen Dynamisierungsprozesses verstehen.“ Diese von Rosa ausgemachte „kompetitive Orientierung“, eingebunden in „Beschleunigungszwänge“, erzeugt eine „Steigerungsdisposition“, die psychologisch, aber nicht nur psychologisch, sondern auch auf „medizinischen, bio- und bevölkerungspolitischen, technischen, ökonomischen und juristischen Wegen [.] in die Subjekte ‚eingeschrieben‘ werden“. Vereinfachend gesagt ist gelingendes Leben nach Rosa jenes Leben, das sich als steigerungsunabhängig definiert.

Mit Max Weber macht Hartmut Rosa noch immer den Calvinismus als Motor dieser Entwicklung aus: „An der Wurzel des kulturprägenden Protestantismus liege (nach Weber, K.H.) ein Weltverständnis, nach welchem die Welt und das fleischliche Selbst als durch und durch sündig und hinfällig erscheinen, weshalb von den Subjekten harte und systematische Askese verlangt wird, aber nicht in Form eines Rückzugs aus der Welt und einer Flucht ins Kloster (wie sie der katholische Mönch oder der indische Yogi pflegen), sondern in Gestalt gesteigerter Aktivität im Sinne einer Bewährung in der Welt.“ Hintergrund dieser Weltdeutung ist Calvins Lehre von der Doppelten Prädestination, also die Idee, Gott habe bereits vor der Erschaffung der Welt entschieden, welcher Mensch erwählt und welcher verworfen ist. Galt für Calvin noch der feste Glaube als Indiz für die Erwählung, so haben die Generationen nach Calvin auch erfolgreiche Arbeit als Segen Gottes gedeutet. Erfolg im Beruf nahm die Angst vor der Verwerfung, aber selbstredend durfte der Erfolg auch nicht innerweltlich genossen werden, sondern Kapital wurde akkumuliert und reinvestiert, um den Erfolg abzusichern. Rosa stellt nun die spannende Frage, „inwieweit Weltverneinung und die daraus resultierende innerweltliche Askese wider den hedonistischen Anschein noch immer die westlich-moderne Kultur bestimmen. Die Tatsache, dass die Bürgerinnen und Bürger sich individuell wie kollektiv von Jahr zu Jahr mehr abverlangen müssen, um die Steigerungsimperative des Wachstums, der Beschleunigung und der Innovationsverdichtung zu erfüllen und dadurch den Status quo und die Wettbewerbsfähigkeit ihrer selbst und ihrer Gesellschaft zu erhalten, scheint mir für die Fortdauer jener Weltbeziehung zu sprechen.“

Also doch! Wir Calvinisten sind die heimlichen Verursacher der Kostenexplosion im Gesundheitswesen. Die Burn-out-Welle geht auf den Calvinismus zurück. Rosa bemüht sich nun, gegenläufig zur innerweltlichen Askese, sogenannte Resonanzachsen zu identifizieren, die ein Leben steigerungsunabhängig machen. Für einen Soziologen durchaus nicht selbstverständlich, entdeckt Rosa auch vertikale Resonanzachsen, verrechnet darunter Religion, Natur, Kunst und Geschichte. Allerdings argwöhnt der begabte Hysteriker und Alarmist Byung-Chul Han, er lehrt Philosophie an der Akademie der Künste in Berlin, bereits seit Jahren, dass alle Inseln der Muße von der Krake des Neoliberalismus (wahrscheinlich eine Spätgeburt des Calvinismus) besetzt sind.

Muße durch Resonanz

Ich war durchaus gewillt, dem Hysteriker und Alarmisten Recht zu geben, denn an Resonanzen, die Muße versprechen, kann ich mich kaum erinnern. Aber dann fiel mir Maarten ´t Hart in die Hände - ein gegen den Calvinismus seiner Kindheit wütender Calvinist. Also ein unverdächtiger Zeuge. „Mit meinem Vater ging ich einmal, als ich etwa acht Jahre alt war, in die Grote Kerk in Maassluis. Bereits in dem Augenblick, als wir das Kirchengebäude betraten und ich zu dem majestätischen Orgelprospekt aufschaute, hörte ich irgendwo dort oben in der Höhe etwas, das nicht im Entferntesten einem Psalm ähnelte, etwas, das aus einer leisen Begleitung aus tiefen Bässen bestand, über denen eine hervortretende Stimme eine Melodie spielte. Mir schossen Tränen in die Augen. Ich war bestürzt, fassungslos. Es war, als dürfte so etwas nicht geschehen, als wäre dies ein Verstoß gegen ungeschriebene Gesetze. Die umherirrende Melodie schien herausfinden zu wollen, an welchen Stellen in der Orgel sich die schönsten Noten befanden. Die Töne lösten in mir etwas aus, das brannte, das schmerzte, und gleichzeitig erfüllte mich ein ungeheuer großes Verlangen, vor allem nach einer Wiederholung der Melodie, aber auch nach etwas anderem, das ich unmöglich benennen konnte. [.] Ich ging nicht mehr in die Grote Kerk. Ich war erschrocken über mich selbst, darüber, dass ich derart gerührt war von etwas, das nur aus Klang bestand und mir trotzdem wichtiger war als der Glaube an Christi stellvertretendes Leiden für unsere Sünden.“

Ich lese, plötzlich alarmiert, süchtig weiter. An anderer Stelle im Text kommt der auf sein eigenes Leben zurückblickende Maarten ´t Hart auf diese Erfahrung zurück: „Ich machte zwar Bekanntschaft mit einer ganzen Menge Musik, doch nie war ich so ergriffen wie von der umherirrenden Melodie der Kirchenorgel. Tja, derartige Momente in einem Leben sind nun einmal selten. Sie können kaum nach Belieben hervorgerufen werden. Sie treten ganz unvorhergesehen ein, wie ein ‚ewiger Moment‘, sie blenden Vergangenheit und Zukunft für einen Augenblick aus und schieben den Tod hinter den Horizont des Lebens, sie bringen eine Empfindung hervor, die auf unzureichende Weise wie folgt beschrieben werden kann: ‚Das ist es also. Dafür lebe ich.‘“

In diesen Sätzen beschreibt Maarten ´t Hart einen kairos, einen Augenblick erhebender Erfahrung, der unverfügbar ist, genauer: Er beschreibt ein stehendes Jetzt, ein nunc stans. Begriffsgeschichtlich geht der Ausdruck des ewigen Moments oder des nunc stans, wie ein eiliger Blick in Wikipedia verrät, auf den spätantiken neuplatonischen Philosophen und Theologen Boethius (ca. 480/485 - 524/526) zurück, der damit die vollkommene Zeitgestalt Gottes einfängt, für Boethius ist das nunc stans Attribut des göttlichen Wesens. Wenn t’?Hart auf die Unverfügbarkeit verweist, dann umschreibt er einen Subjektwechsel: Mir offenbart sich etwas. Das Andere, Fremde, Heilige offenbart sich mir in diesem einen Augenblick, eine qualifizierte Form von Zeiterfahrung, in der sich auf einen Schlag eine ganz neue Welt erschließt. Prompt spricht Maarten ´t Hart wie ein Bekehrter, wie ein Sinnsucher, der ans Ziel gekommen ist: „Dafür lebe ich.“

Löste der calvinistische Glaube bei ihm keine, schon lange keine Resonanz mehr aus, war der Calvinismus in seiner asketischen Weltflüchtigkeit darauf bedacht, sich von weltlichen Freuden nicht angehen zu lassen, dann zeigt sich der junge Maarten beim Ertönen der Melodie als hochgradig resonant: Der dressierte und anästhesierte Körper im Calvinismus lebt plötzlich auf und empfindet intensiv. Was? Das Heilige. Oder, wer noch unverbraucht von Gott, dieser absoluten Metapher, sprechen kann: Gott. Wann immer diese Schlüsselsituation eintritt, dann weint der jeweilige Protagonist des Romans. Bei dem Largo aus Johann Sebastian Bachs Konzert für zwei Violinen und Orchester (BWV 1043) ist Maarten ´t Hart sogar in der Gegenwart von Freunden so ergriffen, dass er die Tränen nicht zurückhalten kann: „Während die Violinen geduldig, fast behutsam, in dem öden Weltall, in dem wir leben, nach genau jenen Tönen suchten, die alle Schrecknisse beschwören, hielt mein Kollege plötzlich im Reden inne. Er sah mich an, legte einen Finger auf die Lippen und flüsterte unserem Kollegen zu: ‚Halt mal kurz den Mund‘. Ich weiß noch, dass ich mich ein wenig schämte, wie, wie auf den Schaufensterscheiben, große Tropfen über meine Wangen liefen. Diesen beiden Tropfen folgten zwei andere, und so ging es weiter die ganze Zeit, solange die Musik dauerte.“

Berührt durch Musik

„Tränen“, sagt der Resonanztheoretiker Hartmut Rosa, „sind der paradigmatische Ausdruck von Resonanzerfahrungen.“ Tränen, so die Pointe, zeugen von „der Intaktheit seiner Weltbeziehung“, anders gewendet: „in der Musik wird die (Welt-)Beziehungsqualität als solche verhandelt“, die Musik „dient der Vergewisserung und potentiell der Korrektur unseres Weltverhältnisses, sie moderiert und modifiziert unsere Weltbeziehung, und sie stiftet sie immer wieder neu als ‚Urbeziehung‘, aus der Subjekt und Welt hervorgehen.“ Musik ist eine ästhetisch-taktile (erotische) Uraffektion, die Körper und Welt vermittelt. Und selbstredend: Diese ästhetisch-erotische Uraffektion, dieses Berührtwerden von Musik, muss für eine Religion, die wie der Calvinismus auf innerweltliche Askese (Weber) setzt, als sündiger denunziert werden.

Als ich die Stellen las, sah ich plötzlich meinen früh verstorbenen Vater vor der Orgel in unserer Kirche sitzen und hörte ihn Bach spielen. Weil das Schriftbild auf dem Bildschirm ganz undeutlich wurde, musste ich zugeben, dass ich in diesem Augenblick eine Resonanzerfahrung erlebte. Ich habe mich ergeben. Ich bin aufgestanden, runter an den See spaziert. Es regnete leicht. Einen Schirm habe ich nicht aufgespannt. Ich bin sehr lange gelaufen, nicht gejoggt. Selbstredend. Auch die Inseln der Muße können vom Kommerz besetzt werden. Aber die Kraft der Kunst ist noch immer stark genug. Zumindest die Musik kann auch den härtesten Calvinisten retten. Und ich habe jetzt, nach den vielen Stunden des ziellosen Laufens, eine Idee, wie ich das Essay von Maarten ´t Hart anlegen werde. Orgeloffenbarung. So heißt der Titel.

Literatur

Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 816 Seiten, Euro 34,95.

Byung-Chul Han: Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2015, 128 Seiten, Euro 9,99.

Maarten ´t Hart: Das Paradies liegt hinter mir. Meine frühen Jahre. Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens, Pieper Taschenbuch, München/Berlin/Zürich 2016, 304 Seiten, Euro 9,99.

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Klaas Huizing

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Klaas Huizing

Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.


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