Der reformierte Blick auf Bilder setzt knapp 40.000 Jahre vor unserer Zeit ein.“ Mit diesem verblüffenden Bonmot eröffnet Andreas Mertin, einer der Großmeister protestantischer Bildtheologie, seinen zentralen Essay über die reformierte Ästhetik. Bereits der homo sapiens besaß die Fähigkeit durch Bilder Welt zu vergegenwärtigen: „Vielleicht taten sie es einfach, weil sie es konnten, weil sie die ersten Freigelassenen der Schöpfung waren. Vielleicht wollten sie, da sie zum ersten Mal ein Bewusstsein von späteren Generationen entwickelten, diesen Nachkommen bewusst etwas hinterlassen. Dann wären sie die ersten Kulturträger. Am Anfang dieser Menschen steht jedenfalls das Bild.“ Das ist die grandiose Pointe von Mertin: Die Abwehrstrategie der Reformierten, den Kirchenraum von Kultbildern freizuhalten, befreite die Kunst dazu, sich erneut lebensnah der Realität zuzuwenden. Sie dient damit künftig auch, wie Mertin mit Karl Barth andeutet, nicht nur dem Genuss, sondern bietet in ihren großen Werken auch eindringliche Kritik der nicht immer ausbalancierten Wirklichkeit. Weil die Bilder niemals in einer Deutung aufgehen, bleiben sie als Kultbilder zwar grundsätzlich unzulänglich, sind aber religiös in dem Sinne, dass sie ein letztes Element von Unverfügbarkeit erfahrbar machen. Ganz nebenbei räumt Mertin auch auf mit den zum Teil grotesken Verzerrungen zum Bildersturm, das das kollektive Gedächtnis gespeichert hat – Stichwort: Kein dunkles Kapitel.
Überzeugend auch kann Mertin die reformierte Ästhetik als Kunst der Verdichtung und Konzentration profilieren, die etwa auf barocke Beigaben ganz verzichtet und im reformierten Stillleben bei Louise Moillon symbolische Bezüge auf die Heilsgeschichte auslässt. In ihrem Purismus prägt die reformierte Ästhetik eine Tendenz zur Abstraktion. Nicht zufällig werden im Essay Mondrian und die abstrakten Kirchenfenster von Alfred Manessier, die in der Liebfrauenkirche in Bremen zur visuellen Ekstasis einladen, hoch gelobt. Einen Begriff von George Steiner aufnehmend, kann die evangelische Kirche, so der Vorschlag, mit einladender Höflichkeit, cortesia, die Kunst in der Kirche willkommen heißen, um den Möglichkeitsspielräumen, die die Kunst erschließt, zu begegnen.
Kirchenräume in reformierten Traditionen untersucht Jörg Schmidt, und veritable Ansätze zu einer Theologie des Kirchenraums steuert ein wieder abgedruckter Vortrag von Matthias Zeindler bei. Eindrücklich schildert Zeindler am Beispiel des Berliner Doms den Streit um die Macht im Kirchenraum. Bedeutungsexplosiv auch der inszenierte Rundgang durch neunzehn reformierte Kirchen, die von einzelnen Autoren vorgestellt werden. Übersichtlich ist zwar die Anzahl von neueren Kirchenbauten im reformierten Protestantismus, mit der altreformierten Kirche in Emlichheim (Fritz Baarlink) hat die Baukunst allerdings einen Jahrhundertbau im Programm. Reformierte Ästhetik als Kunst der Konzentration wird hier hautnah spürbar.
Der prächtig gestaltete Band bietet eine sinnenreiche Ergänzung zum Jubeljahr 2017. Eine kleine Miniatur zum Thema: „Bild und Virtualität/Medialität“ wäre freilich wünschenswert gewesen. Ein bilderreiches und gedankenstarkes Buch.
Klaas Huizing
Klaas Huizing
Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.