Dynamische Kraft

Neue Luther-Werkbiographie
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Wer nach Fragen und Antworten zur Situation des Menschen vor Gott sucht, begegnet hier einem Luther, der reichlich Orientierung und Hilfe gibt.

1996 schrieb Ernst Feil im ersten Band seiner gewaltigen Abhandlung über den Begriff „religio“ recht apodiktisch: „Luther läßt sich nicht unter der Überschrift ‚Religion‘ verhandeln.“ Nun nimmt Reinhard Schwarz eben diesen, bei Luther nur peripher begegnenden, Begriff in den Untertitel einer Theologie Luthers auf. Gut beraten war er bei dieser Entscheidung wohl nicht, und es ist kein Zufall, dass Schwarz gerade in seiner Begründung dieses Vorgehens – entgegen seinem sonstigen Anspruch, deutsche Texte zu bevorzugen – überproportional mit lateinischen Texten argumentieren muss: Hier kann die verkürzende Wiedergabe von „religio“ mit „Religion“ (statt etwa „Frömmigkeit“ oder „Gottesverehrung“) eine Quellennähe der gewählten Begrifflichkeit suggerieren, die dem genaueren Blick schwer standhält. So zieht Schwarz die Lutherdeutung in ein neuzeitliches Begriffsgerüst, das den fremden, fernen Luther zu einem noch heute fraglos gültigen Lehrer macht.

Diese Begriffswahl macht unmittelbar die Eigenheit der vorliegenden Theologie Luthers deutlich: Jene dynamische Kraft, auch Widersprüchlichkeit, die Oswald Bayer in seiner Darstellung präsentiert hat, wird hier in ein ruhiges Gleichmaß zurückgeholt, das Luther anschlussfähiger, freilich auch weniger auf- und anregend macht. Dabei verzichtet Schwarz nicht nur auf Anachronismen, sondern er vermeidet auch den Fehler, in jene Loci-Dogmatik zurückzufallen, wie sie die schwächere Hälfte von Bernd Lohses Theologie Luthers ausmacht. Doch auch Lohses schon in den Achtzigerjahren formulierter Impuls, Luther auch genetisch zu verstehen, ist Schwarz auf nachgerade irritierende Weise fremd. Ausdrücklich dispensiert er sich von der Frage nach Luthers reformatorischer Entwicklung, präsentiert hierzu aber gleichwohl eine klare Position: Luthers Theologie sei „in ihrem Kern“ nicht aus der mittelalterlichen Frömmigkeit und Theologie hervorgegangen. Der Sache nach fällt Schwarz' Position gerade in ihrer Unklarheit – was eigentlich soll hier abgewiesen werden? – hinter die in der internationalen Forschung – nicht zuletzt durch frühere Beiträge von Schwarz selbst – längst erreichte Differenzierung weit zurück. Der Mangel betrifft dabei nicht nur die fehlenden mittelalterlichen Hintergründe: Auch bei der Darstellung des reformatorischen Martin Luther tritt die Frage nach dynamischen Entwicklungen, etwa in der Amtslehre zugunsten eines harmonischen, spannungsfreien Gesamtbildes, zurück.

Die so markierten Grenzen dieses Buches sind freilich die Kehrseite seiner Stärken: Schwarz zeichnet ein Bild von hoher Geschlossenheit. Ausgehend von Christus als „Heilsgabe und Lebensexempel“ – donum und exemplum– entfaltet er Theologie über Anthropologie: Es ist der Mensch in seinen fundamental durch die Rechtfertigungslehre bestimmten Relationen, von dem seine Rekonstruktion der Theologie Luthers ausgeht. Vor subjektivistischer Verengung bewahrt ihn dabei, dass er die Grundlage für diese Bestimmung des Menschen in der Heiligen Schrift und der doppelten Gestalt des Wortes Gottes als Gesetz und Evangelium gegeben sieht. Der zu Recht betonten durchgängigen Erfahrungsdimension in der Theologie Luthers liegt die Ansprache des Menschen durch Gott zugrunde. Freilich erstaunt im Zusammenhang der Darlegung des Schriftprinzips, dass Schwarz hier die Hermeneutik aus dem Sola Scriptura folgen lässt. Von Gerhard Ebeling, dessen Forschungen sonst über weite Strecken Schwarz‘ Ansatz bestimmen, lässt sich lernen, dass die Entwicklung der Hermeneutik schon in den frühen Vorlesungen zu beobachten ist, lange bevor ein klar exklusives Schriftprinzip formuliert war.

Sachte nimmt Schwarz in seine Deutung die Wahrheitselemente einer schöpfungstheologischen Rekonstruktion Luthers auf, wenn er das Gesetz nicht allein anhand des Wortes Gottes beschreibt, sondern auch anhand der „geschöpflichen Ursituation des Menschen“. Die Befreiung hiervon kann dann – wie Schwarz in eindringlicher Textexegese vorführt – nur von außen, durch Christus, kommen. Indem der Mensch in seinem Lebenszentrum von Christus geleitet ist, kann er sich dann in Ethik und Kirche entfalten.

Der Bogen, den Schwarz auf diese Weise nachzeichnet, drückt eine Grundbewegung in Luthers Denken aus und tut dies in quellennaher Sprache. Einzelne Passagen sind Preziosen der Lutherdeutung, die man so nirgends anders lesen kann, insbesondere diejenigen Stellen, an denen Schwarz auf Luthers Bibelauslegung zu sprechen kommt. Die systematische Kraft von Schwarz‘ Ansatz zeigt sich vor allem in dem der Befreiung des Menschen aus dem Unheil gewidmeten fünften Kapitel, in das nicht nur die Ablassproblematik, sondern auch die Frage des freien Willens souverän integriert wird. Solche Ausführungen geben dem Werk sein Gewicht und machen es zu einem großen Gewinn für die Wahrnehmung Luthers. Schwarz erweist sich darin einmal mehr als einer der besten Kenner von Luthers Werk. Wer nach Fragen und Antworten zur Situation des Menschen vor Gott sucht, begegnet hier einem Luther, der reichlich Orientierung und Hilfe gibt. Dabei wird er oder sie freilich weniger Neues und Überraschendes finden als Altvertrautes.

Wäre es mit einem Sachregister versehen, wäre dieses Buch daher wohl auch angetan, ein neues Standardwerk zu werden. Die Gelehrsamkeit des Autors, die Gekonntheit des theologischen Aufrisses und die erkennbare Summierung eines Lebenswerkes dürften das ihre hierzu tun – und wohl nicht zuletzt auch der Umstand, dass dieses Buch so wenig Störendes und Verstörendes enthält. Es betätigt mehr, als zu hinterfragen. Es beruhigt mehr, als herauszufordern. Den widersprüchlichen, tief in Traditionen verwurzelten und doch zu Neuem drängenden Reformator mit all seiner provokativen Widerständigkeit vermag es nicht zu erfassen. An seine Stelle tritt ein unanstößiger, modernefähiger „Lehrer der christlichen Religion“.

Reinhard Schwarz: Martin Luther. Lehrer der christlichen Religion. Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2015, Seiten 544, Euro 39,–.

Volker Leppin

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Volker Leppin

Volker Leppin (geboren 1966) ist Professor für Kirchengeschichte in Tübingen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen beim Mittelalter, der Reformationszeit und der Aufklärung, in den Themen Scholastik und Mystik und bei der Person und Theologie Martin Luthers.


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