Monumental verinnerlicht

Zwischen Romantik und Moderne: Max Regers Bedeutung für die evangelische Kirchenmusik
Max Reger (1873–1916) beim Komponieren, Sommer 1913. Fotos: Max-Reger-Institut, Karlsruhe
Max Reger (1873–1916) beim Komponieren, Sommer 1913. Fotos: Max-Reger-Institut, Karlsruhe
Der Komponist Max Reger schuf im Übergang von der Romantik zur Moderne wahre Perlen geistlicher Musik für Chor und Orgel. Jürgen Schaarwächter, Musikwissenschaftler am Max-Reger-Institut in Karlsruhe, beleuchtet anlässlich des einhundertsten Todestages des Komponisten am 11. Mai Leben und Werk eines rastlosen Künstlers und früh Verstorbenen.

Anders als viele seiner Zeitgenossen war Max Reger ein Komponist, dem kirchenmusikalisches Schaffen nicht gelegentlicher Ausflug, sondern zentraler Tätigkeitsbereich war. Dabei war er ein „Grenzgänger zwischen den Konfessionen, zwischen weltlicher und geistlicher Musik, zwischen Schlichtheit für Laien und Komplexität für professionelle Musiker“ (Susanne Popp), dessen Religiosität sich auch in Kompositionen spiegelt, die keinem unmittelbar religiösen Kontext zugehören. Regers häufige Nutzung von Choralzitaten ist ein nicht zu unterschätzender Faktor auch in seinen Instrumental- und Vokalwerken.

Das oberpfälzische Städtchen Weiden, in dem der 1873 in Brand im Fichtelgebirge in eine katholische Familie Hineingeborene aufwuchs, besaß nur eine – von beiden Konfessionen genutzte – Pfarrkirche, was bedeutete, dass die Familie Reger es nicht vermeiden konnte, dass Max in Kontakt mit evangelischer Kirchenmusik und Liturgie kam. In manchen solchen Simultaneumskirchen wurde von den Protestanten kritisch darauf geachtet, dass die Katholiken ihre Messe nicht überzogen; es wird berichtet, dass der lutherische Küster noch während derselben den Altar abzuräumen oder der Organist zu präludieren begann. Regers Familie war die stete Beschäftigung ihres Sohnes mit der evangelischen Kirchenmusik ein Dorn im Auge. Glaubhaft ist überliefert, dass Regers Schwester Emma sein evangelisches Gesangbuch versteckte. Auch sein katholischer Lehrer Adalbert Lindner, enger Vertrauter der frühen Jahre, betrachtete kritisch das Interesse seines ehemaligen Schülers, wusste diesen aber auch für Arbeiten für die katholische Liturgie zu gewinnen.

Statt nach dem Willen der Eltern wie sein Vater den Lehrerberuf zu ergreifen, konnte sich der siebzehnjährige Max Reger mit seinem Berufswunsch, Musiker zu werden, durchsetzen und studierte 1890–93 am Konservatorium in Wiesbaden. Ab dieser Zeit, in der er sich vor allem mit Liedern, Klavierstücken und Kammermusik profilierte, intensivierte sich auch die Beschäftigung mit protestantischen Chorälen. Sein erstes Choralvorspiel für die Orgel fertigte er 1893 auf den urprotestantischen Choral „O Traurigkeit, o Herzeleid“ von Johann Rist. Auch in seiner Orgelsuite e-Moll Opus 16 von 1894/95 fanden protestantische Choräle Verwendung – am prominentesten im langsamen Satz. Die neunte Strophe des Chorals „O Haupt voll Blut und Wunden“, „Wenn ich einmal soll scheiden“, sollte zu einem Generalmotto in Regers Lebensphilosophie und religiösem Empfinden werden.

So kommt es auch nicht von ungefähr, dass Reger sich ab 1898 nahezu stetig mit evangelischem Liedgut auseinandersetzte. Die Begegnung mit dem aus Berlin stammenden Organisten und späteren Thomaskantors Karl Straube, der 1897 seine Stelle an der Weseler Willibrordi-Kirche antrat, bot ihm die Möglichkeit, sich als Orgelkomponist zu profilieren. Dass Reger – nach der Wiesbadener Zeit trotz erster Veröffentlichungserfolge als „gescheiterte Existenz“ hochverschuldet ins Weidener Elternhaus zurückgekehrt – protestantische Choräle auch als „inneres Bollwerk“ gegen die stete Überwachung durch sein unmittelbares Umfeld benötigte, ließe sich durch das sensible-sensuelle Naturell des nur nach außen hin häufig laut polternden und vulgär witzigen Komponisten erklären.

Durchaus selbstbewusst stellte er seine Choralvorspiele Opus 67 in unmittelbaren Konnex zu seinem großen Vorbild Johann Sebastian Bach und betonte, „daß seit J. S. Bach keine solche Sammlung von Choralvorspielen mehr erschienen ist.“ Zum geflügelten Wort ist Regers Ausspruch geworden: „Die Protestanten wissen gar nicht, was sie an ihrem Chorale haben“. Wie zentral Bach für Regers kompositorisches Schaffen war, zeigt seine lebenslange Auseinandersetzung als Bearbeiter und Herausgeber von Werken Bachs. In der Umfrage der Zeitschrift Die Musik zur Bedeutung Bachs lautete Regers Antwort 1905 unter anderem: „Seb. Bach ist für mich Anfang und Ende aller Musik; auf ihm ruht und fußt jeder wahre Fortschritt!“

Priorität evangelisch

Ab 1899 wurde Reger als Komponist immer gefragter; neue Verlage begannen sich für seine Werke zu interessieren, es umfasste bald fast alle Gattungen, die Oper ausgenommen. Seine intensive Auseinandersetzung mit protestantischer Kirchenmusik fasste der Sechsundzwanzigjährige folgendermaßen zusammen: „Der katholische Organist hat nie Gelegenheit etwas zu spielen; der katholische Organist kann auch gewöhnlich nichts! man bezahlt auch in Deutschland die katholischen Organisten sehr schlecht; die Protestanten lassen sich ihre Organisten etwas kosten; da haben wir einige famose Virtuosen! Deshalb auch meine Phantasien über protestantische Choräle [...]! Als ob es in Religion eine Kunst gibt! Die größte Messe stammt von einem Protestanten! (Bach!)“

Bis zu seiner Heirat mit der geschiedenen Protestantin Elsa von Bercken im Oktober 1902, die seine Exkommunikation zur Folge hatte, war auch katholische Kirchenmusik für ihn immer wieder ein Thema gewesen. Nun verschob Reger seine Prioritäten nahezu vollständig zugunsten evangelischer Kirchenmusik. Er edierte praktische Ausgaben zweier Bachkantaten und komponierte seine erste eigene Choralkantate Vom Himmel hoch, da komm ich her auf den Weihnachtschoral von Martin Luther.

Damit jede Kirchengemeinde seine Choralkantaten aufführen konnte, fordert Reger in seinen fünf Choralkantaten nur bescheidene Instrumentalkräfte und bezieht häufig Gemeindegesang als „interaktiven“ Anteil mit ein. Neue Impulse für sein kirchenmusikalisches Schaffen ergaben sich mit dem Umzug nach Leipzig 1907, wo Max Reger bis zu seinem frühen Tod im Alter von nur 43 Jahren am 11. Mai 1916 eine Professur für Komposition am Konservatorium innehatte und kurze Zeit auch als Universitätsmusikdirektor tätig war.

Regers Freund Fritz Stein, Universitätsmusikdirektor in Jena, bemühte sich um eine Ehrendoktorwürde für Reger, die schon 1908 im Rahmen des 350-jährigen Universitätsjubiläums verliehen wurde. Reger bedankte sich mit einer festlichen Komposition, die kein Gelegenheitswerk sein sollte. Bis zu den Jubiläumsfeierlichkeiten war nur der erste Teil des Werks fertig, der im Festgottesdienst am 31. Juli 1908 aus der Taufe gehoben wurde.

Ein Jahr später war das Werk – nunmehr in seinen Ausmaßen nicht mehr für den Gottesdienst geeignet – abgeschlossen, die Uraufführung erfolgte, gleichzeitig in Breslau und Chemnitz, am 23. Februar 1910. Schon lange hatte Reger mit entsprechenden chorsymphonischen Plänen gerungen, immer wieder auch mit einem Te Deum, das aber nie in dieser Form ausgearbeitet wurde. Die enormen technischen Anforderungen (er forderte Stein gegenüber „10000000000000000 Proben“), nach dessen erfolgreicher Umsetzung der Hörer „als ‚Relief‘ an der Wand kleben“ solle, haben die Komposition bis heute nicht zu einem Repertoirewerk werden lassen.

Unmittelbar nach Abschluss des 100. Psalms Opus 106 schuf Reger im Juli 1909 einen weiteren Höhepunkt seines kirchenmusikalischen Schaffens, die Motette Mein Odem ist schwach Opus 110 Nummer 1 auf Verse aus dem Buch Hiob. 1911 und 1912 entstanden zwei weitere Motetten, die dem Opus 110 zugeordnet wurden – das Triptychon stellt ähnlich hohe Herausforderungen an die Interpreten wie die Bach’schen Motetten; heute ist es zumeist im Konzert, nicht im Gottesdienst zu hören. Ebenso wie der 100. Psalm (dieser häufig in Einrichtung mit Orgel statt Orchester) erfreuen sich diese drei Werke auch heute trotz oder gerade wegen der hohen Anforderungen bei couragierten Kirchenchören und Vokalensembles großer Beliebtheit.

Wider die Kriegseuphorie

In den letzten Lebensjahren Regers rückte sein kirchenmusikalisches Schaffen für Chor und Orgel in den Hintergrund, vielleicht auch weil ihn weltlichere Dinge stärker beschäftigten – etwa die Erziehung seiner beiden heißgeliebten Adoptivtöchter Christa und Lotti, die Vorsorge für seine Familie (auch Reger war vor falschen Finanzinvestitionen nicht gefeit!) und seiner Stelle als Meininger Hofkapellmeister 1911–1914. Als Ausnahmeerscheinung in Regers kirchenmusikalischem Gesamtwerk dürfen wir die zwanzig Responsorien ansehen, die für die amerikanische lutherische Kirche entstanden und im April 1914 veröffentlicht wurden. Regers mangelnde Beherrschung der englischen Sprache ist hier offenkundig, Ottmar Schreibers deutsche Nachdichtung in Chorkreisen besonders beliebt.

Nach Aufgabe seiner Meininger Stellung brachte das Jahr 1914 für Reger den Impuls zu neuer kirchenmusikalischer Aktivität – nach Kriegsausbruch wurden musikalische Andachten fester Bestandteil des täglichen Lebens, zu denen der vom aktiven Militärdienst Ausgemusterte mit den geistlichen Liedern Opus 137 für Solostimme mit Begleitung und den geistlichen Gesängen Opus 138 für Chor a cappella bedeutende Beiträge beisteuerte. Auch sonst hatte sich Reger von der Kriegseuphorie nicht mitreißen lassen – noch im August 1914 war der Hymnus der Liebe Opus 136 für Bariton und Orchester auf einen Text Ludwig Jacobowskis entstanden, mit dem Reger in Zeiten brutalster kriegerischer Auseinandersetzung die Menschenliebe anrief. Ganz Kind seiner Zeit, waren das Monumentale und das zutiefst Verinnerlichte gleichermaßen Teile von Regers Persönlichkeit. Beides zu vereinen, die Extreme nicht nur in der Polarisierung zu präsentieren, sondern auch in ihren Querbezügen zu erkunden, ist das Neuartige an Reger, das schon Arnold Schönberg faszinierte und bis heute das Studium der Musik Max Regers spannend macht.

Gerade die späten geistlichen Gesänge Opus 138 üben bis heute einen besonderen Reiz auf Kirchenchöre aus, gelingt es Reger in ihnen doch zumeist, die äußerst schwierigen harmonische Übergänge der Motetten Opus 110 hinter sich zu lassen und in einem kunstvoll ausgearbeiteten, gleichzeitig innig schlichten Ton Beiträge zu schaffen, die weit entfernt von Beliebigkeit oder Seichtheit anzusiedeln sind. Dass sich auch einige seiner geistlichen Sololieder großer Beliebtheit erfreuen, ist sicherlich in der emotionalen Komponente wie auch in ihrer guten Sangbarkeit begründet. Unter den kleinen Orgelstücken finden sich gleichfalls zahlreiche Preziosen, die zu unterschiedlichen Anlässen genutzt werden können.

Mit seinem monumentalen, leider abgebrochenen lateinischen Requiem aus dem Jahre 1914 sowie der Requiem-Komposition Opus 144b nach Hebbel gedachte er der vielen Gefallenen des Weltkriegs, schuf so als einer der ersten Requiem-Kompositionen zum Ersten Weltkrieg. Doch auch die eigene Hilflosigkeit und Resignation im Angesicht des Weltenbrandes war zentrales Thema, etwa in dem chorsymphonischen Werk Der Einsiedler Opus 144a. Als symbolträchtig wird noch heute die Tatsache angesehen, dass der Komponist in der Nacht seines Todes die Korrekturfahnen zu Der Mensch lebt und bestehet nur eine kleine Zeit (Opus 138 Nr. 1) liegen hatte.

Information:

Susanne Popp: Max Reger. Werk statt Leben – Biographie. Verlag Breitkopf & Härtel, Wiesbaden, 2015, 544 Seiten, Euro 39,90.

Gerade erschienen ist eine CD mit Max Regers drei Motetten Opus 110 für Chor a cappella und der Choralkantate „O Haupt voll Blut und Wunden“, gesungen vom swr-Vokalensemble unter Leitung von Frieder Bernius (Carus-CD 83.288).

Das Max-Reger-Institut in Karlsruhe hat anlässlich des Jubiläums ein umfangreiches Webportal erstellt.

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Jürgen Schaarwächter

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