Das Ich im Wir
Wovon reden wir eigentlich, wenn wir vom evangelischen Gottesdienst sprechen? Von einer Veranstaltung, die sich seit Jahren in der Krise befindet, die immer weniger Menschen besuchen, die augenscheinlich immer weiter an Relevanz und die Konkurrenz zu Ausschlafen, Familienfrühstück oder Brunch, Wanderung oder Sport verliert? Oder von dem Geschehen, zu dem an Sonn- und Feiertagen regelmäßig weit mehr Menschen strömen als in die Stadien der Fußballbundesliga und das mit Liebe vorbereitet und mit Sehnsucht erwartet wird?
Gelegentlich ließ ich bei Vorträgen den Satz fallen: "Gott ist gar nicht tot, er ist nur bei einem ganz normalen evangelischen Gottesdienst eingeschlafen." Und ich war durchaus erschrocken, dass dieser Satz in seiner ironischen Zuspitzung vielfach Zustimmung fand, ja oft sogar Begeisterung auslöste.
Wovon reden wir also, wenn wir vom evangelischen Gottesdienst sprechen, vom langweiligsten Geschehen unter der Sonne - oder von einer Stunde, in der es spannend wird, weil es um mich geht und die Welt und darum, was Gott damit zu tun hat?
Wir reden von vielfältigen Phänomenen, die gar nicht so leicht unter die Sammelbezeichnung "der evangelische Gottesdienst" subsummiert werden können. Hier steht ein Pfarrer in Albe und Stola am Altar und singt die Einsetzungsworte des Abendmahls. Dort steht eine junge Frau im T-Shirt an einem Bistrotisch und moderiert das Gespräch mit einer etwas älteren, aber ähnlich lässig gekleideten Predigerin. Und beides ist evangelischer Gottesdienst.
Hier singt die Gemeinde einen Choral von Paul Gerhardt, virtuos von der Orgel begleitet. Dort spielt eine Band laut und leidenschaftlich neueste geistliche Musik. Und beides ist evangelischer Gottesdienst.
Hier versammelt sich eine Gemeinde in einer 800 Jahre alten Kirche. Dort treffen sich Motoradfahrer auf der Wiese vor der Kirche zum Gottesdienst - und beides ist evangelischer Gottesdienst.
Die Landschaft ist bunt, und der Streit zwischen denen, die den traditionellen Gottesdienst und denen, die alternative Formen bevorzugen, ist meist nicht ein Streit über unterschiedliche Theologien, sondern viel eher über unterschiedliche ästhetische Vorlieben.
Anders formuliert: Es gibt grundlegend verschiedene Klanggestalten des evangelischen Gottesdienstes. Aber was verbindet diese und macht sie zum evangelischen Gottesdienst, eine Bezeichnung, die mit Eberhard Jüngel zunächst weniger konfessionell zu verstehen ist als vielmehr so, dass es um das Evangelium, die frohe Botschaft geht?
Meine Antwort: Es geht um die Inszenierung der Interaktion von Gott und Mensch in all dem Reden und Singen, Schweigen und Hören, Essen und Trinken. Einfacher gesagt: Gott spricht, wir antworten. Und Gottesdienst ist genau dieses Kommunikationsgeschehen, freilich in, mit und unter all der zwischenmenschlichen Kommunikation, die darin geschieht.
Das jedenfalls war Martin Luthers liturgische Grundidee, die er am 5. Oktober 1544 in der Predigt zur Einweihung der Schlosskirche von Torgau formulierte. In diesem Gebäude solle nichts anderes geschehen, "als dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang".
Das klingt Theologen vertraut, ist aber kühn. Gott redet mit uns und wir mit ihm. Unsere Zeit und Gottes Zeit kommen miteinander in Berührung. Mein Leben ist mehr und anderes als nur mein bescheidener, überschaubarer Alltag, sondern es erhält einen heilsamen Riss. Und wir finden "unsere Füße auf weiten Raum" gestellt (Psalm 31,9).
Händchenhalten beim Abendmahl
Es ist auffällig, wie intensiv Luther in seiner Torgauer Predigt die erste Person Plural betont. Es geht um die Gemeinde - und um das glaubende Individuum nur, insofern es ein Teil von ihr ist. Luther betonte das "allgemeine Priestertum der Getauften". Aber mir scheint, dass das zu den Ideen Luthers gehört, die für die evangelische Praxis der folgenden Jahrhunderte am wenigsten Bedeutung erlangt haben. Es wird ja nicht schon dadurch eingelöst, dass der Pfarrer, die Pfarrerin einzelne Bibellesungen an Gemeindeglieder abtritt und dadurch die pastorale Rolle letztlich bestärkt. Es müsste vielmehr darum gehen, dass die Gemeinde den Gottesdienst feiert und Liturginnen und Liturgen dem zuarbeiten, so dass der Gottesdienst als vielfältige soziale Praxis wahrgenommen und gestaltet wird.
Das ist insofern nicht ganz leicht, als der Protestantismus unbestreitbar in die Geschichte neuzeitlicher Individualisierung gehört. Wenn Menschen hören, dass es im Gottesdienst um Gemeinschaft geht, haben sie Formen von Vergemeinschaftung im Blick, die nicht alle auf gleiche Weise schätzen. So mögen nicht alle den Friedensgruß vor dem und das Händchenhalten beim Abendmahl. Und die penetrante Aufforderung des Pfarrers, der Pfarrerin, man möge aus den hinteren Reihen nach vorne kommen, weil es doch viel schöner sei, wenn sich alle sehen, wird denjenigen, die bewusst einen Platz weit hinten gewählt haben, als größere Zumutung erscheinen, als sich die Pfarrerin, der Pfarrer das vorgestellt hat.
Und doch ist der Gottesdienst gemeinschaftliche Praxis. Es gibt ihn nur, wenn eine Gemeinde da ist - so klein sie auch sein mag. Zwei oder drei in Jesu Namen Versammelte mögen genügen, um wenigstens einen bescheidenen Gottesdienst zu feiern. Gemeinsam in einem Raum, gemeinsam hörend, singend, betend und bekennend - auch so entsteht eine Gemeinschaft. Denn auch der kleine Haufen, der sich am Sonn- oder Feiertag trifft, ist gar nicht so klein, wie er aussehen mag. Im Abendmahl wird in besonderer Weise deutlich, dass die Feiernden an einem Tisch stehen oder sitzen, der Zeiten und Orte transzendiert. Als Leib Christi sind sie verbunden mit Christinnen und Christen über die ganze Welt und durch alle Zeiten.
Evangelisch verstandener Gottesdienst ist vielfältig. Er bedeutet Gottes Reden und die Antwort der Gemeinde. Aber diese Kennzeichnen verbinden alle christlichen Gottesdienste. Doch gibt es etwas, das den evangelischen Gottesdienst auszeichnet und von anderen unterscheidet, wenn man das Adjektiv "evangelisch" konfessionell versteht?
Ja und Nein. Am ehesten ist es wohl die Unverzichtbarkeit und Bedeutung der Predigt. Sie gehört seit den Anfängen zum evangelischen Gottesdienst - wie die gemeinsam auf Deutsch gesungenen Choräle. 1523 formulierte Luther, die Gemeinde solle nimmermehr zusammenkommen, es werde denn gepredigt. Freilich ist das spätestens seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil auch bei den katholischen Schwestern und Brüdern nicht anders und insofern inzwischen nicht mehr eindeutig evangelisch.
Das Rituelle, das mehr oder weniger Gleichbleibende, wird durchbrochen durch das Aktuelle, Individuelle, Besondere. Freilich ist dieses Wechselspiel von Wort und Ritus nicht ganz unproblematisch. Denn es gibt Abstürze auf beide Seiten: Man kann auf der Wortseite vom Pferd fallen und auf der des Ritus. Im einen Fall (protestantisch ist der wohl häufiger) sind Gottesdienste zu beobachten, in denen vor allem geredet und der ganze Gottesdienst in eine einzige lange Predigt verwandelt wird. Sie droht alles andere in den Schatten zu stellen. Dabei ist sie doch nur ein Teil, von dem Luther 1523 noch nicht einmal sicher war, ob er nicht besser vor der weiteren Liturgie stehen sollte, so dass diese ästhetisch geschlossen für sich bestehen und wirken kann.
Es gibt aber auch einen Absturz auf der Seite des Ritus, wobei dieser evangelischerseits wohl eher selten begegnet: ein Gottesdienst, der nicht mehr Anrede ist, nicht mehr in dieser Welt stattfindet, sondern sich in eine Sonderwelt verabschiedet.
Das Wechselspiel von beidem ist eine ästhetische und theologische Herausforderung. Sie ist mehr als ein mehrfach belegtes liturgisches Sandwich, bei dem Wort und Musik in mehreren Schichten aufeinanderfolgen.
Evangelischer Gottesdienst lebt davon, dass er mehr sein soll und kann als das, was "ich" mache und was "mir" gelingen kann. Es geht - so Luther - um Gott. Er hat das erste Wort und bleibt der entscheidende Kommunikationspartner. Damit ergibt sich freilich eine gestalterische Schwierigkeit für alle, die Gottesdienste verantworten, und ein Paradox: Der gute Wille vieler Gottesdienstgestaltender wirkt im schlimmsten Fall kontraproduktiv für das Geschehen des Gottesdienstes. Es ist wie bei einem Pianisten, der einen Sänger begleiten soll: Wenn der Pianist zu laut ist und den Sänger übertönt, macht er - gerade weil der Einsatz groß ist - den Auftritt kaputt. Auf den Gottesdienst bezogen kann das heißen: Gerade wenn der Pfarrer gut sein und der Gemeinde etwas Besonderes bieten will, kann er sich durch seine allzu dichte Präsenz der Kommunikation von Gott und Gemeinde in den Weg stellen, der der Gottesdienst eigentlich den Weg bereiten soll. Liturgin sein ist eine große Aufgabe, hat aber auch viel mit Bescheidenheit zu tun und mit der Fähigkeit zurückzutreten, damit Gott und die Gemeinde miteinander ins Spiel kommen.
Politischer Gottesdienst
Die jüngst vorgelegte Musterdienstordnung der bayerischen Landeskirche schlägt vor, dass sich Pfarrer für einen Gottesdienst 8,5 Stunden Zeit nehmen. Das ist im geschätzten wöchentlichen Arbeitspensum von 48 Stunden nicht wenig. Ob es genug ist, wird sicher jede und jeder unterschiedlich beurteilen. Manche könnten auch fragen, ob das nicht ein zu großer zeitlicher Aufwand für eine Tätigkeit ist, deren unmittelbare Resultate sich oft nicht zeigen.
In der Tat: Der Gottesdienst will nichts bewirken, aber er hat gerade deshalb Wirkungen. Am Sonntag für eine oder eineinhalb Stunden aus dem Alltag auszusteigen, aus funktionieren wollen und zielgerichtet agieren und stattdessen Gott loben, ihm danken, ihn bitten, auf sein Wort hören, ist Praxis derer, die wissen: Diese Welt mit ihren Logiken und Zwängen, ihren vermeintlichen Alternativlosigkeiten, ist nicht alles. Insofern ist jede Feier des evangelischen Gottesdienstes politisch. Und der Gottesdienst kann auch aus diesem Grund nicht hoch genug gelobt werden.
Ich wünsche mir, dass wir den evangelischen Gottesdienst in der Vielfalt seiner Klanggestalten feiern und entwickeln und dabei wissen: Es geht um Gott inmitten unserer Welt - und um den Dialog mit ihm.
Und ich wünschte mir, wir würden von anderen lernen, von Juden vor allem die Liebe zum biblischen Wort, das gerne auch ausführlich gelesen und auf noch viel schönere Weise vorgetragen werden kann, als wir das manchmal tun. Und von Katholiken könnten wir die vielen Kleinigkeiten abschauen, die so klein nicht sind: Die Körper müssen auch in der Liturgie des evangelischen Gottesdienstes eine Rolle spielen: Sich bekreuzigen, auch beim Betreten und Verlassen der Kirche, knien, stehen und sitzen im Wechsel, häufig und selbstverständlich das Abendmahl feiern.
Von den Geschwistern der orthodoxen Kirchen können wir vor allem die Gelassenheit des Vertrauens in die tragende Gestalt des Gottesdienstes jenseits aller Gestaltungswut lernen und von Frei- und Friedenskirchen die Verbindung des Gottesdienstes am Sonntag mit dem im Alltag.
Und wir könnten selbstbewusst die Schönheit und Besonderheit eines evangelischen Gottesdienstes zum Ausdruck bringen, der im Wechselspiel von Wort und Ritus (siehe Seite 32) seinen Weg geht. Dass Gott in einem solchen Gottesdienst einschlafen würde, ist schon deshalb völlig ausgeschlossen, weil er selbst in diesem ja der primäre Gesprächspartner ist.
Alexander Deeg
Alexander Deeg
Prof. Dr. Alexander Deeg, geb. 1972, lehrt Praktische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Leipzig und leitet das Liturgiewissenschaftliche Institut der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland (VELKD).