Im Oktober 2013 beging Leipzig den 200. Jahrestag des Sieges über Napoleons Truppen und spielte mit 6.000 Soldaten, Marketenderinnen und Händlern, 300 Pferden, tausenden Tornistern, 120 Kanonen, ungezählten Effekten und Orden und Degen und Schießgewehren die Schlacht nach. Die Stadt und die umliegenden Dörfer befanden sich im touristischen Ausnahmezustand.
Die Sanierung des Völkerschlachtdenkmals konnte pünktlich zum 100. Jahrestag der Denkmalsweihe, am 18. Oktober 2013, abgeschlossen werden. Im Schatten dieser 300.000 Tonnen schweren Gedenkkuppel war einst der 1955 geborene Architekt, Maler und Bühnenbildner Yadegar Asisi aufgewachsen. Er entdeckte Anfang der Neunzigerjahre, weit entfernt vom Völkerschlachtdenkmal, durch die Mitarbeit an der Bonner Ausstellung "Sehnsucht - Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts" das Panorama für sein Schaffen und entwickelte dieses Medium mit neuesten technischen Möglichkeiten weiter.
Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts hatten die illusionistischen Rundgemälde einen Siegeszug durch europäische Großstädte angetreten. Walter Benjamin bezeichnete sie als "Aquarien der Ferne und Vergangenheit". Besonders beliebt waren Szenen aus der Bibel, aus der kolonialen Welt und - natürlich - Schlachten. Dem Betrachter konnte dabei pädagogisch und ideologisch wirksam ein "Rundumschlag" verpasst werden. Doch Asisis Panorama "Leipzig 1813" im ehemaligen Gasometer hat nichts mit den Schlachtenpanoramen des 19. Jahrhunderts gemeinsam. Es ermöglicht eine leise, emotionale Annäherung: Kein Theater-Kanonendonner dröhnt aus der Rotunde, kein Besucher kommt schweißgebadet heraus. Kein "Aquarium der Vergangenheit" animiert zum Nase-plattdrücken. Stattdessen umfängt den Besucher ganz unheroisch jener 19. Oktober 1813, als Napoleons Truppen sich bereits aus Leipzig zurückgezogen haben. Der Tag beginnt mit Vogelgezwitscher, nach und nach kommen sparsam verteilt Geräusche, ein Hund bellt, eine Katze miaut, Verwundete stöhnen, Pferdegetrappel, Wagenholpern. Man taucht immer tiefer ein. Ergreifend die Glocken von St. Nikolai, deren Klang sich über die Dächer zu schwingen scheint. Am Ende dringen nacheinander ferne Männerstimmen ans Ohr: "Es waren zwei Geenichsginder" in breitestem Sächsisch - aber niemand lacht, dann wohl ein Pole und zuletzt singt ein Franzose ein tänzerisches Kinderlied. Mehrmals sollte man diesen gedrängten Tag nacherleben, um immer wieder neue Details zu erlauschen. Dasselbe gilt für den optischen Eindruck: Mit einem einzigen Rundgang auf nur einem der Podeste ist kaum ein Bruchteil aufzunehmen.
Dem aktuellen Leipziger Panorama liegt eine geniale Dramaturgie zugrunde. Vom Dach der Thomaskirche mitten im Stadtzentrum aus erfasst der Augenzeuge die Stadt Leipzig, deren historische Bau- und Gartensubstanz damals fast noch intakt war. Am Horizont sind brennende Dörfer zu erkennen. Die Besucher sehen ein erschütterndes Bild von Chaos, Leid und Verzweiflung ebenso wie von Mitgefühl und Hilfe an bekannten friedlichen Örtlichkeiten, an denen jetzt, 2014, gottlob Frieden herrscht.
Was zeichnet den "Vorläufer des Kinos" in unserem schnelllebigen Zeitalter mit optimalem Medienzugriff für jedermann aus? Einiges: Das Tempo lässt sich weitgehend selbst bestimmen, man ist gleichzeitig mitten im Geschehen und behält doch den Überblick. Und eindrücklicher als jeder Film vermittelt das Rundgemälde die Vorstellung, dass menschliche Geschichte vielleicht an ihren Ursprung zurückkehren kann. "Es ist nichts Neues unter der Sonne..." Rund war die Welt ja immer schon.
Die Ausstellung im Leipziger Asisi-Panometer wird bis Ende 2015 gezeigt.
Beate Bahnert