Christofer Frey hat 1989 ein Buch über "Die Ethik des Protestantismus. Von der Reformation bis zur Gegenwart" veröffentlicht. Darin ist die geschichtliche Entwicklung einer evangelischen Ethik beschrieben - von der Reformation bis zu einer Art "Gemeindeethik" im 20. Jahrhundert. Es folgte eine "Theologische Ethik", die didaktisch konzipiert war, neben zahlreichen Arbeiten zu ethischen Einzelthemen. Jetzt legt er ein umfangreiches Buch über die erkenntnistheoretischen Grundlagen und theologischen Zugänge zu einer evangelischen Ethik vor.
Nicht zufällig taucht das Wort "transzendental" häufig auf, das hier im kantischen Sinne gebraucht wird. Damit wird der Anspruch erhoben, den Weg zu einer vernünftigen Letztbegründung für die Ethik zu beschreiten. Dieser Weg ist beschwerlich. Denn Frey gibt sich nicht mit ausgetretenen Pfaden anderer zufrieden, obwohl er sie verfolgt und auf ihre Überzeugungskraft hin prüft. Die Geschichte der Philosophie von Aristoteles bis Karl Popper und Ludwig Wittgenstein wird daraufhin untersucht, welche Bestandteile ihrer jeweiligen Beweisführung übernehmbar, weil vernünftig sind. Dann jedoch erfolgt ein langer Anlauf biblischer Begründungen und theologischer und dogmatischer Reflexionen, um eine evangelische Ethik zu entwerfen, die nicht aus dem Gesetz entwickelt wird, sondern auf dem Evangelium ruht. Dazu wird insbesondere Karl Barth mit seiner Reihenfolge - Evangelium und Gesetz - herangezogen. Eine evangelische Ethik folgt aus Gottes Offenbarung in Jesus Christus, präzise aus der Rechtfertigung, durch die der Sünder zu einem ethisch bestimmten Leben erst befreit wird. In der Vernachlässigung der Sünde als immanentem Faktor des menschlichen Lebens verfehlen Frey zufolge die meisten ethischen Konzeptionen die geschichtliche Realität, in der so häufig das vermeintlich Gute zum Vehikel des Bösen wird. Das macht er auch denjenigen zum Vorwurf, die wieder einer liberalen Theologie zuneigen.
Ethik lässt sich für Frey auch nicht aus Werten - Normen, Ordnungen oder Geboten - herleiten. Er zitiert zustimmend Martin Luther, dass der Christ im Glauben neue Dekaloge erfinden könne. 1989 hatte er dazu im Sinne Karl Barths geschrieben: Ethik solle eine Demonstration zur Ehre Gottes werden; mit Barth ist Frey auch der Ansicht, "dass biblisches Zeugnis die Ethik im Grunde nur durch Entwürfe biblischer Theologie beeinflusst".
Frey entscheidet sich nach Durchsicht zur Verfügung stehender Alternativen für eine "lebenserhaltende" und sozialverträgliche "Verantwortungsethik". Doch später wird im Begründungszusammenhang einer evangelischen Ethik häufiger von "Glaubensethik" gesprochen. Sie ist in der Schöpfung als ihrer "transzendentalen Dimension" verankert und eschatologisch - nicht teleologisch - ausgerichtet. Dafür wird die Unterscheidung von Letztem und Vorletztem durch Dietrich Bonhoeffer übernommen.
Doch damit gibt sich Frey noch nicht zufrieden. Er unternimmt es, die "partikularen Ursprünge und Perspektiven (einer evangelischen Ethik) auf ihre Kapazitäten zur Selbstüberschreitung (zu) untersuchen". Im Unterschied zu Hans Küngs "Weltethos" hält er nämlich einen partikularen Ethik-Ansatz für unvermeidlich und prinzipiell sinnvoll, doch dessen Universalisierung (nicht Generalisierung!) für möglich und erstrebenswert.
Der Gedanke einer Gemeindeethik wird 2014 noch einmal aufgenommen, diesmal nicht nur phänomenologisch, sondern als partikularer Ausgangspunkt für seine Universalisierung: "Die Verantwortung der Gemeinde kann nicht allein im exemplarischen Engagement für ein Problem unserer Zeit liegen, sondern ist umfassender, weil in der Vielfalt der Lebensvollzüge ihrer Glieder die Wirklichkeit Jesu Christi und die Realität der Welt aufeinandertreffen."
Damit ist der Fülle an Gedanken und Argumentationen dieses imponierenden Ethik-Entwurfs nicht Genüge getan. Das Opus magnum des renommierten Lehrers christlicher Ethik verdient eine weit gründlichere Auseinandersetzung und Würdigung.
Christofer Frey: Wege zu einer evangelischen Ethik. Gütersloher Verlagshaus,Gütersloh 2014, 496 Seiten, Euro 29,99.
Götz Planer-Friedrich