Gesellschaftliche Emanzipation bemisst sich nach Theodor W. Adorno daran, dass Menschen "ohne Angst verschieden sein" können. In der aktuellen Diskussion über Inklusion wird an diese Formulierung häufig erinnert. Und in der Tat: Die Wertschätzung von Verschiedenheit führt in das Zentrum dessen, was "Inklusion" bedeutet. Der Begriff nimmt unterschiedliche sozialwissenschaftliche Theorien in sich auf, verdankt seine aktuelle Prägung aber vor allem dem Diskurs um Behinderung und gesellschaftliche Vielfalt. Seine Wurzeln liegen in der Empowerment-Bewegung behinderter Menschen in den USA, die sich seit den Siebzigerjahren für Selbstbestimmung, Bürgerrechte und umfassende gesellschaftliche Teilhabe eingesetzt hat. Inklusion zielt auf die Anerkennung von Heterogenität, also von Verschiedenheit. Sie bezieht sich deshalb nicht nur auf das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung, sondern zielt, wie der Integrationspädagoge Andreas Hinz formuliert, auf das "Miteinander unterschiedlicher Mehr- und Minderheiten - darunter auch die Minderheit der Menschen mit Behinderung".
Inklusion thematisiert mithin die unmittelbare Zugehörigkeit aller Menschen zu einer Gesellschaft der Vielfalt, auch derer, die sich an den Rand gedrängt fühlen. Diese Teilhabe soll auf unterschiedlichen Ebenen Gestalt gewinnen: in der uneingeschränkten Geltung der Menschen- und Bürgerrechte, im gleichberechtigten Zugang zu den gesellschaftlichen Institutionen und in der sozialen Zugehörigkeit zu einer Familie, sozialen Netzwerken, Nachbarschaften sowie einer lokalen Gemeinschaft.
In Deutschland hat der Inklusionsgedanke im Zusammenhang mit der 2009 ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention deutlich an Einfluss gewonnen. Nach anfänglichem Zögern ist eine verstärkte Diskussion mittlerweile auch in Kirchen und Theologie zu beobachten. Dabei sollte es weder um eine unkritische "Theologie der Inklusion" noch um eine pauschale Kritik der Inklusion als Illusion gehen. Angemessener scheint es vielmehr, das Thema theologisch zu betrachten und so zu einer Präzisierung der Diskussion beizutragen. Biblische Texte erweisen sich dabei als unverzichtbare Bezugspunkte. Zu fragen ist, welche Impulse zum Thema Zugehörigkeit und Vielfalt in ihnen zur Geltung kommen. Daraus ergeben sich anschließend Impulse zur Gestaltung inklusiver Prozesse.
Inklusionsfeste mit Ausgeschlossenen
Es erscheint naheliegend, dabei zunächst auf die Verkündigung und Praxis Jesu zu blicken: Indem er Menschen in seine Nachfolge rief, bildete er eine neue Gemeinschaft, die aus der Hoffnung auf die befreiende Nähe Gottes lebt. Der Kreis der zwölf Jünger repräsentierte dabei ganz Israel als endzeitliches Volk Gottes. Zu dieser Ganzheit gehörten für Jesus auch diejenigen, die an den Rand gedrängt worden waren. Seine Mahlzeiten "mit den Zöllnern und Sündern" (Markus 2,16) waren Inklusionsfeste mit Ausgeschlossenen.
Die Einladung Gottes gilt allen Stigmatisierten: "wenn du ein Mahl machst, so lade Arme, Verkrüppelte, Lahme und Blinde ein ..." (Lukas 14,13). Selbst der Samaritaner wird nicht länger als Ausländer auf Distanz gehalten. Das neue Volk Gottes ist die vielfältige Gemeinschaft derer, die ihr Leben von der befreienden Liebe Gottes bestimmen lassen. Eingeladen sind alle, die Abrahams Söhne und Töchter sind (vgl. Lukas 19,9). Gelegentlich, wie in der Begegnung mit der syrophönizischen Frau (Matthäus 15,21-28) oder dem Hauptmann von Kapernaum (Lukas 7,1-10), hat Jesus diese Einladung auch ethnisch entgrenzt. Das Inklusionskriterium ist hier, wie auch sonst durchgängig, das Vertrauen auf Gottes verändernde Liebe: "Frau, dein Glaube ist groß" (Matthäus 15,28). Denjenigen aber, die dieser Nähe Gottes bewusst ausweichen (vgl. Lukas 14,15-24), bleibt der Platz an der Tafel verwehrt. Ihnen sagt Jesus, dass keinem von denen, "die eingeladen waren, mein Abendmahl schmecken wird" (Lukas 14,24). In der Gerichtsrede des Matthäusevangeliums erscheint wiederum das, was die Menschen "einem von diesen meinen geringsten Brüdern" (Matthäus 25,40) getan haben, als Teilhabekriterium. Das Evangelium Jesu ermöglicht Vielfalt, beinhaltet aber keine billige Inklusion. Jesus lädt ein, ruft aber zugleich in die Nachfolge und verkündigt darin eine "teure Gnade" (Dietrich Bonhoeffer). Seine Einladung ist bedingungslos, kann aber nicht folgenlos bleiben.
In den frühen christlichen Gemeinden musste das Thema von Zugehörigkeit und Vielfalt in dem Moment neu bedacht werden, als sich neben judenchristlichen auch heidenchristliche Deutungen des Glaubens etablierten. Im Zentrum der Auseinandersetzung von Paulus und Titus mit den Ältesten der Jerusalemer Gemeinde stand deshalb die Neubestimmung von Inklusionskriterien im Lichte des Evangeliums. Paulus hat in dieser Auseinandersetzung die judenchristliche Beschneidungsforderung zurückgewiesen. "Mir haben die, die das Ansehen hatten, nichts weiter auferlegt" (Galater 2,6), resümiert er später und fügt hinzu: "nur dass wir an die Armen dächten ..." (Galater 2,10). Der frei machende Glaube und die durch ihn inspirierte Solidarität genügen offenbar als einigendes Zentrum, das Paulus vielfach als "Sein in Christus" beschrieben hat. Deshalb dürfen auch kulturelle Identität, soziale Stellung oder Geschlechtszugehörigkeit keine diskriminierende Rolle spielen: "Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann oder Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus" (Galater 3,28).
Viele Glieder, ein Leib
Besonders in seiner Korrespondenz mit der christlichen Gemeinde in Korinth trat das Thema von Inklusion und Exklusion in den Mittelpunkt. In ihr waren aus Gruppenbildungen und Milieudifferenzen handfeste Konflikte erwachsen. Paulus trat in dieser Auseinandersetzung weder als Parteigänger einer Gruppierung noch als Schwärmer einer romantisierenden Homogenität auf. Vielmehr entwickelte er das Bild einer zentrierten Vielfalt. Ausgehend vom Brotwort des Abendmahls formuliert Paulus den Gedanken einer Gemeinschaft, in der die Feiernden zu einem Leib verbunden sind, weil ihnen allen in der Mahlfeier der Leib Christi gegeben ist. "Denn ein Brot ist's: So sind wir viele ein Leib, weil wir alle an einem Brot teilhaben" (1. Korinther 10,17). Wenige Abschnitte später variiert er diesen Gedanken mit Blick auf die Taufe und betont: "Wir sind durch einen Geist alle zu einem Leib getauft, wir seien Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, und sind alle mit einem Geist getränkt" (1. Korinther 12,13). In der Aufnahme einer in der Antike verbreiteten Vorstellung präzisiert er anschließend diesen Gedanken durch das Bild eines Organismus, der aus spezialisierten und zugleich gleichrangigen Organen besteht: ein Leib mit vielen Gliedern.
Für diese Leibmetapher ist es charakteristisch, dass in ihr jede hierarchische Über- oder Unterordnung ausgeschlossen wird und die einzelnen Glieder einander demokratisch gleichgeordnet sind. Allerdings rechnet Paulus angesichts der korinthischen Gemeindekonflikte auch damit, dass der wechselseitige Respekt durch einseitige Hochachtung und Verachtung gestört wird. Deshalb setzt er dem zwischenmenschlichen Achtungsdefizit einen theologischen Anerkennungsüberschuss entgegen: "Gott hat den Leib zusammengefügt und dem geringeren Glied höhere Ehre gegeben" (1. Korinther 12,24). Mit ihm verbindet sich zugleich eine gemeindliche Solidaritätsverpflichtung, "damit im Leib keine Spaltung sei, sondern die Glieder in gleicher Weise füreinander sorgen" (1. Korinther 12,25). Der im folgenden Kapitel entfaltete "Hymnus auf die Liebe" führt diesen Gedanken fort und traut der Liebe zu, Vielfaltsgemeinschaften zusammenzuhalten. "Die Liebe eifert nicht ..., sie bläht sich nicht auf ..., sie sucht nicht das ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu" (1. Korinther 13,4 f).
Häufig ist die paulinische Argumentation auf die Einheit der Kirche hin ausgelegt worden. Sie ist aber zugleich auch für den Umgang mit Verschiedenheit instruktiv. Unverkennbar redet Paulus keiner Inklusion der Beliebigkeit das Wort. Ausdrücklich markiert er mehrfach Grenzen der Teilhabe. So gilt beispielsweise: "Ihr könnt nicht zugleich am Tisch des Herrn teilhaben und am Tisch der bösen Geister" (1. Korinther 10,21). Gerade weil sich die Gemeinde als Leib Christi am Tisch des Herrn zentriert, entscheiden sich hier Exklusion wie Inklusion gleichermaßen. Separatismen erteilt Paulus eine Absage. Zugleich ermöglicht ihm die Metapher des Leibes Christi die Anerkennung von Vielfalt: Einerseits werden Gaben, Funktionen und Ämter enthierarchisiert, andererseits verlieren übliche Exklusionskriterien wie beispielsweise kulturelle Identität oder sozialer Status ihre diskriminierende Bedeutung. Darüber hinaus stellen Fürsorge und Liebe das einigende Band dar.
Gottes Inklusionsversprechen
Die neutestamentlichen Texte bringen das Inklusionsversprechen Gottes deutlich zur Sprache. Seine Einladung gilt allen Menschen. Im Gottesdienst wird die versöhnte Gemeinschaft mit Gott gefeiert. Diese Gabe wird zugleich zur Aufgabe, miteinander als solidarische Vielfaltsgemeinschaft zu leben. Kirchgemeinden verfügen deshalb als geistliche und soziale Lebensräume über ein erhebliches inklusives Potenzial.
Die biblischen Bezugspunkte sind darüber hinaus auch für die gesellschaftliche Inklusion instruktiv. Sie machen deutlich: Mittelpunkte, reflektierte Grenzen, Rituale und Solidarität sind wesentliche Aspekte, die zum Gelingen von Inklusion beitragen. Heterogenität muss regelmäßig ausbalanciert werden. Deshalb ist es erstens wichtig, dass Vielfaltsgemeinschaften ihre eigene Mitte finden und in Begegnungen, Unternehmungen oder Projekten lebensweltliche Verknüpfungspunkte schaffen. Zweitens erfordert Inklusion auch einen reflektierten Umgang mit Grenzen, weil Gemeinschaften stets Begrenzungen voraussetzen und die Einladung an alle nicht alles einschließt. Drittens ist es wichtig, Inklusion durch Rituale und Feste symbolisch zur Darstellung zu bringen. Gottesdienste, Stadtteilfeste oder bestimmte Kieztreffpunkte bieten dafür je unterschiedliche Erfahrungsmöglichkeiten. Schließlich aber bedürfen inklusive Prozesse auch wechselseitiger Aufmerksamkeit und sozialer Sensibilität. Durch spontane Assistenz, organisierte Nachbarschaftshilfe und professionelle Unterstützung kann ein Netz solidarischer Beziehungen geknüpft werden, das Teilhabe auch in erschwerten Lebenssituationen sicherstellt.
Inklusion ist ein offener Prozess, kein starres Programm. Zahlreiche positive Beispiele erzählen mittlerweile davon, dass es gelingen kann, ohne Angst verschieden und solidarisch verbunden zu sein.
Ulf Liedke