Horizonterweiternd

Kirchenmusik tiefsinnig erzählt
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Dieses Buch ist bemerkenswert, und es eignet sich für Viele.

Um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen: Dieses Buch ist bemerkenswert, und es eignet sich für Viele. Zum einen für die große Schar derer, die geistliche Musik lieben, sie gerne hören oder gar ausüben, aber für das "Warum?" dieser Leidenschaft bisher wenig Worte fanden. Sie werden bei Johann Hinrich Claussen in beglückender Fülle fündig. Genauso mit Gewinn lesen sein Buch aber Menschen, die sich einbilden, einiges von der Sache zu wissen, denn Claussen versteht es, basale Informationen mit tiefsinniger Deutung zu verbinden. So führt der Hamburger Hauptpastor und Propst seine Leserschaft durch knapp zwei Jahrtausende Geschichte christlicher Musik, ohne Fußnoten und in angenehm essayistischer Art.

Zu Beginn wirft der Autor einen Blick auf die "verlorenen Ursprünge" der Musik aus biblischer Zeit. Verloren insofern, als dass kaum etwas Konkretes bekannt ist, da nahezu alles mit dem Untergang des Römischen Reiches unwiederbringlich verloren gegangen sei. So bilanziert Claussen, dass vor der Entdeckerfreude "die Trauer über den Verlust einer ganzen Welt verlorener Klänge, Rhythmen und Melodien" stehen müsse, "ein regelrechtes Atlantis der Musik", wie er es nennt. Schade! Aber dann: Packend zu lesen, wie sich aus dem Dunkel dieses Unterganges der Gregorianische Choral erhebt, ausführlich widmet er sich Luther und der Reformation mit ihrer Neujustierung des Gemeindegesangs und dem römisch-katholischen Pendant beziehungsweise den Folgen dieser Entwicklung in Gestalt des Wirkens Palestrinas und der Reformen des Konzils von Trient Mitte des 16. Jahrhunderts. Darin verwebt der Autor gekonnt und lehrreich die Entstehung und Entwicklung der Mehrstimmigkeit im Hochmittelalter und in der Renaissance.

Natürlich nimmt Johann Sebastian Bach einen breiten Raum ein. Die Beschreibung, wie der heutige Mensch Bach hören und verstehen kann, ist dem Autor vortrefflich gelungen, besonders in den Tiefenbohrungen, die er vornimmt. Immer wieder gelingen dabei Sprachkompositionen, die den musikalischen Gegenstand gelungen umschreiben - zum Beispiel wenn es über den Beginn der berühmten Bass-Solo-Kantate "Ich habe genug" heißt: "Die Oboe legt sich um diese Arie wie ein Trauerflor" - und sich daraus dann eine originelle theologische Deutung entwickelt. In dieser Hinsicht ist die Lektüre der Passagen über Bachs Matthäus-Passion überaus lohnend. Claussen bilanziert nach seinen Einblicken in das große Werk: "Das war schrecklich, aber auch erhebend. Nicht zuletzt darin liegt ja die irritierende Wirkung der Matthäus-Passion, dass sie dieses Grauen in so schöne, wenn auch stellenweise erschreckende Musik übersetzt. Am Ende ist man Teil einer absoluten Unheils- und Heilsgeschichte geworden, deren letzten Sinn man wahrscheinlich nicht verstanden hat. Vielleicht wäre das nicht die schlechteste Lehre, die man aus der Matthäus-Passion ziehen könnte: Dass wir Gott nicht verstehen können, er sich selbst aber auch nicht immer versteht." Solche tiefsinnigen Funde, die zum Weiterdenken anregen, gibt es zuhauf, auch in den weiteren Kapiteln über Händel, Mozart, Mendelssohn und am Schluss über Gospel. Es ist bekannt, dass Kirchenmusik viele Menschen in ihren Bann schlägt, die vielleicht ansonsten gar nicht so viel mit Kirche und Religion "am Hut" haben oder zu haben scheinen. Claussens "Gottesklänge" können vielleicht auch solchen "religiös unmusikalisch" musikalischen Menschen eine Ahnung vermitteln, dass es sich lohnt, der mit heißem Herzen geliebten Kirchenmusik tiefer auf den Grund zu gehen. Denn möglicherweise haben Herz, Seele und Verstand dann schlicht noch mehr davon.

Johann Hinrich Claussen: Gottes Klänge. Verlag C. H. Beck, München 2014, 364 Seiten,Euro 24,95.

Reinhad Mawick

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