Flucht ohne Wiederkehr

Im Nahen Osten fehlt den Christen jede Hoffnung auf Heimat
Flüchtlinge in Khanke. Foto Thomas Prieto Peral
Flüchtlinge in Khanke. Foto Thomas Prieto Peral
Der Nahe Osten ist erschüttert in seinen kulturellen Wurzeln - für Christen wird eine Rückkehr immer schwerer, wie Thomas Prieto Peral, Referent für Ökumene und Weltverantwortung im bayerischen Landeskirchenamt, während seiner Reise in den Nordirak festgestellt hat.

Die Stimme des Erzbischofs wird leise. Der große Mann aus Mosul sitzt zusammengesunken in einem Sessel und lässt seinen Blick nervös durch den Raum gleiten. Emil Nona ist als Bischof der chaldäischen Christen in Mosul als einer der letzten mit seiner Gemeinde aus der Stadt geflohen, Anfang Juli, als die Truppen des so genannten Islamischen Staates (IS) die Stadt eingenommen hatten und mit der systematischen Vertreibung der Christen begannen.

Nun erzählt er seine Geschichte einer kleinen Delegation der bayerischen Landeskirche, die sich in den Nordirak aufgemacht hat. Immer wieder versagt dem Bischof die Stimme bei seinem Bericht. Man habe ihnen alles abgenommen an den Checkpoints. Wertsachen, Gepäck, ihre Autos. Selbst ihre Papiere durften sie nicht mitnehmen, so als habe man ihnen die Identität nehmen wollen. Viele hätten Gewaltmärsche von 70 Kilometer in das kurdische Gebiet schaffen müssen, Junge hätten die Alten auf dem Rücken getragen. Er sei nun ein Bischof ohne Diözese, und seine Gemeinde sei verstreut in ein Exil ohne Zukunft. Der Blick des Bischofs lässt erahnen, welchen Schmerz er und seine Gemeinde zu ertragen haben. Das Schlimmste aber, sagte Bischof Nona, sei der Verrat der alten Nachbarn. Man habe Jahrhunderte in Mosul als Christen mit Muslimen zusammengelebt, sich als Nachbarn gekannt, auf den Märkten miteinander geredet, an den Schulen und der Universität zusammen gelernt. Aber nicht einer, nicht ein einziger dieser Nachbarn habe sich seit der Flucht bei ihm gemeldet und sein Mitgefühl gezeigt. Nicht einmal eine sms habe er aus Mosul bekommen. Die Häuser der Christen seien geplündert worden, soviel habe er erfahren. Dem Bischof versagt die Stimme. Mit dieser Vertreibung, das wird klar, ist Heimat verloren gegangen in der Seele.

Wie tief dieser Verlust das Leben der irakischen Christen verändert, wird in den Flüchtlingslagern der nordirakischen Autonomieregion Kurdistan deutlich. Die bayerische Delegation besuchte christliche Flüchtlinge in Ankawa, dem christlichen Stadtteil der Hauptstadt irakisch Kurdistans, Erbil. Normalerweise hat Ankawa etwa 40.000 Einwohner, mit den Flüchtlingsströmen aus Mosul und den Dörfern der Ninive-Ebene nördlich und östlich von Mosul verdoppelte sich innerhalb von zwei Wochen die Zahl. Die Menschen kamen als Flüchtlinge zu Fuß, mit nichts anderem als ihrer Kleidung. Es sind Menschen, die in ihren Heimatstädten Mosul, Karakosch oder Telkaif den Mittelstand bildeten, oft akademische Berufe hatten, Häuser besaßen und sich nicht selten in den örtlichen politischen Gremien engagierten. Mit der Flucht verloren sie alles. Als Christen versuchten sie dorthin zu gelangen, wo andere Christen leben, ins Kurdengebiet des Nordirak mit seinen christlichen Siedlungen. Karakosch, nur 20 Kilometer östlich von Mosul war die größte fast ausschließlich christlich bewohnte Stadt des Irak, mit ehemals 50.000 Einwohnern.

Tiefe Trauer

Die Menschen in Ankawa nahmen die Flüchtlinge auf, so gut es eben ging. In den Gemeinderäumen der Kirchen wurden Matratzenlager eingerichtet, wo vor allem Frauen mit Kindern in drangvoller Enge die Zeit verbringen. Um die Kirchen herum und auf den Freiflächen der Stadt haben sich Flüchtlinge niedergelassen, viele in provisorischen Zelten, manche einfach nur unter Planen, die meisten aber einfach unter freiem Himmel. Die Erschöpfung ist den Menschen anzumerken. Allein schon die Organisation des Alltags ist extrem Kräfte zehrend: In der drangvollen Enge gibt es keine Küchen oder Geräte zur Zubereitung von Mahlzeiten, es gibt nur wenige Toiletten und Waschräume - oft für hunderte von Menschen. Die örtlichen Kirchen versuchen mit Notprogrammen zu helfen, auch die internationalen Hilfswerke. Aber all die Decken und Kerosinkocher können über die tiefe Trauer nicht hinweghelfen, keine Heimat mehr zu haben.

Immer wieder sagen Flüchtlinge, es gebe für sie nur zwei Alternativen: Entweder garantiere man ihnen Sicherheit und sie könnten wieder in ihre Dörfer und Städte - oder sie würden emigrieren, nach Amerika, Australien oder auch Europa. Auf keinen Fall werde man sich im Irak noch einmal umsiedeln lassen, nach den vielen Fluchterfahrungen der vergangenen Jahrzehnte. Die Entschlossenheit, mit der das gesagt wird, täuscht nur mühsam darüber hinweg, dass es in beide Richtungen kaum Chancen gibt. Nach Hause wird es nicht mehr gehen, nicht nur der Sicherheit wegen, sondern weil das alte, zwar nicht immer konfliktfreie, aber pragmatisch gelebte Nebeneinander der Religionen im Nordirak zerbrochen ist. Und das internationale Exil ist für Menschen ohne Pässe erst einmal kaum erreichbar. "Wir sitzen im Nichts", brachte es ein Flüchtling auf den Punkt.

"Es gibt diese Welt nicht mehr", überschrieb in der Zeit Ende Juni Navid Kermani seinen persönlichen Abschied von einem Orient, der anarchisch, bunt gemischt und tolerant war, der aber mit den brutalen Eroberungen des IS endgültig zu einem Märchen geworden ist. Das widersprüchliche Nebeneinander verschiedener Religionen und Lebensweisen machte den Orient aus: "Wenn wir etwas an den Arabern liebten, weil wir es aus Deutschland nicht so gut kannten, dann war es ihr Talent, Unterschiedliches unterschiedlich zu belassen, Widersprüche nicht auflösen zu müssen, Fragwürdiges nicht zu hinterfragen oder einfach den Klängen und Düften nicht nachzugehen, die aus dem Nebenhaus ins eigene Zimmer dringen. Es ist genau das, was in der arabischen Kulturgeschichte so hervorsticht, diese islamwissenschaftlich nicht zu erklärende Regelmäßigkeit, mit der innerhalb des Islams gegen den Islam verstoßen wird."

Den inneren Kitt verloren

Es war dieses Lebensgefühl, das wie ein Kitt die Gesellschaften des Nahen Ostens zusammenhielt. Im Mikrokosmos des Alltags wurde vielfach eine pragmatische Toleranz gelebt, die sich allerdings kaum jemals in rechtsstaatliche Strukturen verwandeln ließ. Mit dem fundamentalistischen Eifer des IS und dem chaotischen Krieg aller gegen alle in Syrien ist dieser innere Kitt des Orients verloren gegangen. In den Flüchtlingslagern des Nordirak, in den Elendsquartieren hunderttausender Flüchtlinge im Libanon und in den zerstörten Städten Syriens ist zu besichtigen, was davon übrig geblieben ist. Der Schmerz über Tod, Flucht und Vertreibung überlagert alles andere. Jeder ist sich selbst überlassen, Hilfe gibt es allenfalls von den Großfamilien oder Glaubensgenossen.

Sanherib ist Mitte Dreißig. Er ist in einem der christlichen Notquartiere in Erbil so etwas wie der Sprecher der Flüchtlinge. Mit leiser, freundlicher, aber auch beharrlicher Stimme spricht er die Besucher an. Es ist ihm wichtig zu erklären, wie schwierig es für sie als Christen ist, sich eine Zukunft im Irak vorzustellen. Den Irak gebe es so nicht mehr, sagt er. Hier im Norden gebe es keine irakischen Sicherheitskräfte mehr, keine irakische Verwaltung, nichts, was noch eine Verbindung zu Bagdad zeigen würde. Von der Zentralregierung in Bagdad erhoffe man sich gar nichts mehr. Niemand dort habe ein Interesse, die Minderheiten des Landes zu schützen. Wir sind Assyrer, sagt er, wir leben als Volk in diesem Land seit über 3.000 Jahren. Sanherib erzählt die Geschichte seines Volkes, als sei es seine persönliche Erinnerung. Wir wurden schon im zweiten Jahrhundert der Zeitenrechnung Christen und siedeln in dieser Region länger als alle anderen. Aber es gibt niemanden, der sich jetzt für uns einsetzt.

Wir sind alleine. Er schaut die Besucher eindringlich an und fragt: "Sagen Sie uns, was wir machen sollen. Wo sollen wir hin?" Es entspinnt sich eine Diskussion um die Rolle der Kurden. Gebe es nicht hier in Kurdistan eine Möglichkeit, zumindest vorübergehend zu bleiben? Die Kurden hätten doch für Sicherheit in ihrem Gebiet gesorgt, meint ein Besucher. Ja, das sei der Blick des Westens. Für die Assyrer sei das aber anders. "Denken Sie nur an Sumail", sagt er, "Wir können das nicht vergessen."

Gedächtnis der Gewalt

Der Orient hat ein langes Gedächtnis, so heißt es. Geschichte wird dort erlebt und erinnert, als sei sie Teil der persönlichen Biographie. Die kollektive Erinnerung prägt Volksgruppen und gibt ihnen ihren Zusammenhalt. Zur Tragik des Orients gehört es, dass sich in diese kollektiven Erinnerungen eine Gewalterfahrung nach der anderen fügt, ohne dass es jemals Gelegenheit gäbe, Versöhnungsprozesse zu beginnen, ein "Healing of Memories".

Eine solche schwere Erinnerung für die Christen sind die Massaker von Sumail im Jahr 1933. Der kleine Ort westlich der Stadt Dohuk wurde in den Wirren des irakischen Unabhängigkeitskampfes Schauplatz grausamer Exekutionen der irakischen Armee. Über 3.000 assyrische Christen wurden am 7. August 1933 umgebracht. Kurden und Jeziden brandschatzten im Gefolge dieser Massaker andere Dörfer der Christen. Das Misstrauen vor allem den Kurden gegenüber blieb im Gedächtnis der Assyrer und der anderen Christen haften. Als im Sommer 2014 die Horden des IS über die christlichen Dörfer Nordiraks herfiel, war es wieder ein 7. August. Als würde sich die Geschichte wiederholen, weinten die Menschen an diesem Tage nicht nur wie jedes Jahr über die Opfer Sumails, sondern nun auch über den Verlust ihrer Heimat. Und nun sollen ausgerechnet die Kurden die neue Schutzmacht der Christen sein, fragten sich viele der Flüchtlinge. Die Kurden hätten nur das Interesse, einen kurdischen Staat auszubauen, mit kurdischer Armee, so sagen viele. Als Minderheit hätten die Christen auch in Kurdistan nur wenig Perspektiven.

Alle haben Schmerzen

Die unversöhnten Erinnerungen der Menschen im Irak und im ganzen Orient, mit der an Gewalt nicht armen Geschichte der Region, sind eines der größten Hindernisse für den Aufbau einer gemeinsamen Lebensperspektive der Volksgruppen. Der Zerfall der Nationalstaaten Irak und Syrien geht einher mit der Erfahrung, dass es doch wieder nur die Mitglieder des jeweils eigenen Stammes sind, auf die Verlass ist. Der Tribalismus, der die arabische Welt von einer Gewaltherrschaft zur nächsten taumeln ließ, wird auf fatale Weise wieder als einziger Rettungsanker empfunden. Die Spirale der Gewalt, so ist zu befürchten, wird sich weiter drehen. Emigration in den Westen erscheint so für viele als einziger Weg, ihr zu entfliehen.

Es ist ein Meer an Hoffnungslosigkeit, das die Menschen des Orients derzeit erleben. Immerhin, es gibt auch Hoffnungsschimmer. Es sind Menschen wie Salah Ahmad. Der Psychotherapeut hat ein Netz von Hilfszentren für Gewaltopfer in irakisch Kurdistan aufgebaut und betreut dort mehrere tausend Menschen jährlich. In Kooperation mit der deutschen Stiftung "Wings of Hope" werden die Fachleute für diese Arbeit ausgebildet. Die deutsche Besuchsgruppe besucht eine ambulante Station in einem der Flüchtlingslager. Salah berichtet von den Menschen, die zu ihm kommen und die zum ersten Mal ihre Gewaltgeschichten erzählen können. Er berichtet, wie es ist, wenn sich der Abgrund der Erinnerung auftut, wenn das blanke Entsetzen allmählich den Tränen der Trauer weicht und zumindest die Seele langsam Ruhe findet. "Jeder kann kommen", sagt der Kurde Salah. "Es ist nicht wichtig, welcher Religion man angehört. Denn verletzt sind wir in diesem Land alle. Heilung werden wir nur finden, wenn wir uns dies eingestehen: Alle haben Schmerzen, alle brauchen Frieden."

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Thomas Prieto Peral

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Thomas Prieto Peral

Thomas Prieto Peral ist Kirchenrat und Referent für theologische Planungsfragen im Bischofsbüro der Evang.-Luth. Kirche in Bayern.


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