Botschaft

Wie Erinnerung gelingen kann
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Assmann nimmt eine Bestandsaufnahme des aktuellen wissenschaftlichen Diskurses mit Blick auf das Gedenken vor und erörtert das Unbehagen, das Historiker auf unterschiedliche Weise ergriffen hat.

Am Anfang war das Schweigen. Nach dem Kriegsende 1945 stand den Deutschen nicht der Sinn danach, sich die eigenen Verbrechen, den Mord an Millionen Juden vorhalten zu lassen. Dass solche Vorhaltungen tatsächlich weitgehend ausblieben, mag dazu beigetragen haben, die deutsche Bevölkerung für das neue politische System zu gewinnen. Der Preis allerdings war hoch: Viele Strukturen und Hierarchien der Nazizeit blieben erhalten, viele Opfer fanden keine Anerkennung ihres Leidens.

Erst Jahre später folgte die Erinnerung an den Holocaust, und sie vollzog sich in einer Art "Crescendo", wie die Anglistin und Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann schreibt. Die wesentlichen Punkte sind hinlänglich bekannt: Vom ersten Auschwitz-Prozess (1965) über die Achtundsechziger-Bewegung, die Fernsehserie "Holocaust" (1979), Weizsäcker-Reden und den Historikerstreit (1985) bis zur Errichtung des Holocaust-Mahnmals in Berlin. Der Höhepunkt dieses "Crescendos" ist nun erreicht: Mit seiner inzwischen etablierten Erinnerungskultur gilt Deutschland weltweit als Vorbild.

Und dennoch macht sich Unbehagen breit über Form und Inhalt des Gedenkens. In ihrer "Intervention" nimmt Assmann eine Bestandsaufnahme des aktuellen wissenschaftlichen Diskurses vor und erörtert dieses Unbehagen, das Historiker auf unterschiedliche Weise ergriffen hat. Sie fragt, wie Erinnerung in einer Zeit angemessen gelingen kann, in der biographische Bezüge zur Geschichte durch den Tod der meisten Zeitzeugen weitgehend gekappt sind und in der in Deutschland Millionen Menschen mit Migrationshintergrund leben, deren Familiengeschichten sich nicht in die deutschen Geschichte einfügen lassen.

Für Unbehagen sorgt Assmann zufolge die noch immer von den Achtundsechzigern beanspruchte Deutungshoheit über den Holocaust als eine Art von negativem Gründungsmythos der Bundesrepublik und die damit einhergehende "Sakralisierung" des Holocaust. Das Unbehagen gründet unter anderem auf der Annahme, dass sich gemeinsame Identitäten eher aus positiven als aus negativen Erfahrungen entwickeln. Anlass zur kritischen Nachfrage bietet auch die gewachsene Ritualisierung des Holocaust-Gedenkens oder, anders formuliert, die "historisch entkernte Frömmigkeit" der Erinnerungskultur, über die etwa Volkhard Knigge, der Direktor der Gedenkstätte Buchenwald, klagt. Auch "geschichtspolitische Eingriffe in die historische Forschung", die "Normierung der Sprache", die Tabus und der Anspruch auf "Political Correctness" beim Thema "Holocaust" sind Anlässe des Unbehagens.

Assmann selbst spricht sich dennoch nicht gegen politische Erinnerungsrituale aus, mahnt jedoch an, diese möglicherweise sensibler zu "choreographieren" und weniger auf die Bedürfnisse der Selbstdarstellung auszurichten. Gleichzeitig aber sollten ihrer Meinung nach die Erwartungen an solche Rituale nicht zu hochgesteckt werden, denn - und das ist das Entscheidende - eine tiefgründige Auseinandersetzung mit dem Thema müsse an anderer Stelle stattfinden.

Das, was zwischen 1933 und 1945 geschehen ist, darf also auch fast siebzig Jahre später nicht zu den Akten gelegt werden. "In der Nachwirkung traumatischer Gewaltgeschichten löst die Zeit allein keine Probleme", schreibt Assmann zu Recht. Darum muss es heißen: "Zukunft und Vergangenheit", nicht "Zukunft oder Vergangenheit". Das ist die wesentliche Botschaft ihres Buches. Und weil das Gedenken heute an die Idee der Menschenrechte gebunden ist, können darin auch Menschen in anderen Ländern und Deutsche mit ausländischen Wurzeln einstimmen.

Aleida Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. Verlag C. H. Beck, München 2013, 232 Seiten, Euro 16,95.

Annemarie Heibrock

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