Streit um Mohammeds Erbe

Die Kämpfe radikaler Islamiten im Irak zeigen, dass der Islam in Konfessionen zersplittert ist
Iranische und irakische Schiiten trauern beim Aschurafest in Kerbela. Foto: dpa/ Abedin Taherkenareh
Iranische und irakische Schiiten trauern beim Aschurafest in Kerbela. Foto: dpa/ Abedin Taherkenareh
Der Vormarsch der radikalsunnitischen Rebellengruppe ISIS (Islamischer Staat im Irak und Großsyrien) im Irak hat den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten im Zweistromland erneut in den Mittelpunkt medialer Aufmerksamkeit gerückt. Viele Beobachter im Westen fragen sich deshalb: Worin unterscheiden sich Sunniten und Schiiten? Und warum kämpfen sie gegeneinander? Der Stuttgarter Islamwissenschaftler und Journalist Christoph Meyer beschreibt die Geschichte und aktuelle Lage der islamischen Konfessionen.

Das große Schisma des Islam ist beinahe so alt wie die Religion selbst und der Grund dafür überraschend profan: Als der Prophet im Jahr 632 nach Christus stirbt, entbrennt ein Streit um seine Nachfolge. Muhammad hatte nicht nur eine neue Religion gegründet, sondern auch einen Staat geschaffen, der schon damals die gesamte arabische Halbinsel umfasste und bald ein Weltreich sein sollte. Er hatte aber weder einen Sohn hinterlassen, noch wurde allgemein anerkannt, dass er einen Nachfolger bestimmt hätte.

Soll der Kalif, wie der Nachfolger des Propheten genannt wird, aus den Reihen der treuesten Kampfgefährten in Mekka ausgewählt werden? Oder kommt nur der engste männliche Verwandte Muhammads, sein Cousin und Schwiegersohn Ali, dafür infrage?

Darüber streiten die ersten Muslime. Die "Schiat Ali", die Partei Alis, ist die Keimzelle der Schiiten. Doch Alis Anhänger können sich zunächst nicht durchsetzen. Als er 24 Jahre nach dem Tod Muhammads an vierter Stelle doch noch zum Kalifen ausgerufen wird, bricht ein Bürgerkrieg aus. Ali wird vorgeworfen, er sei in ein Mordkomplott gegen seinen Vorgänger Uthman verstrickt gewesen. Er muss sich in die Hochburg seiner Anhänger, ins irakische Kufa zurückziehen und fällt schließlich selbst einem Attentat zum Opfer. Sein Gegenspieler, ein Verwandter Uthmans, beerbt ihn auf dem Kalifenthron. Auch Alis Sohn Husain, der aus der Ehe mit Fatima, der Tochter Muhammads hervorgegangen ist, ergeht es nicht besser: Der Prophetenenkel bittet im Jahr 680 nach Christus vergeblich bei seinen Anhängern in Kufa um Schutz. Kurz darauf wird er mitsamt seiner Familie im irakischen Kerbela von der Armee des amtierenden Kalifen getötet, der ihn als Nebenbuhler fürchtet. Nur ein Sohn Husains überlebt das Massaker, doch kein Nachkomme Alis wird je den Kalifenthron besteigen.

Prozessionen und Passionsspiele

Heute bekennen sich zwischen zehn und fünfzehn Prozent der Muslime weltweit zur Schia, das sind über 150 Millionen Menschen. Der gewaltsame Tod der in ihren Augen rechtmäßigen Prophetennachfolger und der Verrat an Husain durch seine Anhänger in Kufa sind die zentralen Themen ihrer Frömmigkeit. Bei den zehntägigen Muharram-Riten gedenken sie jährlich des Todes Husains und seiner Familie in öffentlichen Prozessionen und Passionsspielen. Zum Aschura-Fest geißeln sich Jungen und Männer in blutigen Ritualen mit Ketten oder zerschneiden sich mit Schwertern die Stirn, um für die Mitschuld ihrer Vorfahren am Tod Husains zu büßen. Auch der Besuch der Grabmoscheen der beiden Märtyrer in den irakischen Städten Nadschaf und Kerbela und anderer Schreine hat einen festen Platz im schiitischen Glaubensleben.

Im Unterschied dazu konzentriert sich die sunnitische Frömmigkeit ganz auf Muhammad und seine Gefährten. Der Prophet gilt als unfehlbar, und erklärtes Ziel ist, ihm in fast allen Bereichen des Lebens nachzueifern. Die Anleitung dazu findet sich teils im Koran, überwiegend aber in den Überlieferungen über die Taten und Aussprüche Muhammads - auf Arabisch "Sunna". Das islamische Gesetz, die Scharia, entsteht durch die Interpretation dieser Quellen. Zuständig dafür sind die Rechtsgelehrten. Eine der ältesten Ausbildungsstätten für die Gelehrten der vier sunnitischen Rechtsschulen befindet sich in Kairo. Der Scheich (Leiter) der Al-Azhar-Universität, die ursprünglich an die gleichnamige Moschee angegliedert war, ist heute einer der angesehensten religiösen Autoritäten in der sunnitischen Welt.

Mystik verliert an Bedeutung

Es gibt aber auch eine andere, weniger nüchterne Seite des sunnitischen Islam: Die mystischen Bruderschaften des Sufismus. Durch sinnliche Erfahrungen wie Tanz, Musik und Meditation suchen sie eine spirituelle Verbindung zu Gott und zum Propheten, zu dem sie ein beinahe zärtliches Verhältnis pflegen. Für die Sufis gibt es eine zweite, tiefere Bedeutung hinter den Vorschriften des Koran und der Sunna, die nur Eingeweihten offenbart wird. Ihr Einfluss geht aber zugunsten des orthodox-sunnitischen Islam immer weiter zurück.

Auch die Schiiten haben sich der Verrechtlichung des Islam angepasst. Als Rechtsquelle schöpfen sie dabei neben dem Koran und den Prophetenaussprüchen vor allem aus den überlieferten Aussprüchen der Nachkommen Alis. In der Befolgung der grundlegenden religiösen Pflichten, wie Gebet, Fasten im Monat Ramadan, Pilgerfahrt nach Mekka und dem Geben von Almosen sind sie sich mit den Sunniten aber weitgehend einig.

Die größte Gruppe der Schiiten, auch Imamiten oder Zwölfer-Schia genannt, führt die Reihe der Nachkommen Alis bis ins neunte Jahrhundert nach Christus fort. Die so genannten Imame gelten als die von Gott inspirierten Führer der islamischen Gemeinde und sind in den Augen der Schiiten unfehlbar.

Warten auf Mahdis Rückkehr

Als der elfte Imam im Jahr 873 nach Christus stirbt, ohne einen Sohn zu hinterlassen, stürzt die Schia in eine tiefe Krise. Nach und nach setzt sich die Auffassung durch, er habe einen Sohn gehabt, diesen aber vor dem Zugriff des sunnitischen Kalifen versteckt. Er soll bis heute an einem versteckten Ort leben ohne älter zu werden, und er wird eines Tages zurückkehren, um sein Reich in Besitz zu nehmen. Die Rückkehr des zwölften Imams, auch Mahdi genannt, werde von apokalyptischen Vorzeichen begleitet und läute eine Endzeit ein, in der sich alle Menschen zum Islam bekennen, so der Glaube.

In diesem Punkt ähnelt der schiitische Islam christlich-jüdischen Vorstellungen von der Ankunft beziehungsweise Rückkehr des Messias. Über den mystischen Islam hat die Vorstellung von der Erwartung eines Mahdis auch Eingang in sunnitische Kreise gefunden. Immer wieder kam es in der Vergangenheit dazu, dass die Ankunft des Mahdis verkündet wurde - meist begleitet von gewaltsamen Versuchen des angeblichen Mahdi, auch weltliche Macht zu erlangen. Der Name Mahdi-Armee für die 2003 gegründete schiitische Miliz des irakischen Geistlichen Muktada as-Sadr ist eine Anspielung auf diese endzeitliche Erwartung. Ihr Kampf dient dazu, der Ankunft des Mahdis den Weg zu bereiten.

Die meisten Anhänger der Zwölfer-Schia leben im Iran, wo sie die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung stellen. Auch im Irak, in Bahrain und Aserbaidschan sind mehr als die Hälfte der Einwohner Zwölfer-Schiiten. Im Libanon, in Afghanistan, Kuwait, Saudi-Arabien und Pakistan bilden sie jeweils große Minderheiten von bis zu 30 Prozent. In manchen Fällen überschneidet sich die konfessionelle Zugehörigkeit mit der zu einer ethnischen Gruppe. Das ist zum Beispiel bei dem Volk der zwölfer-schiitischen Hasara in Afghanistan der Fall. Sie sind nach den sunnitischen Paschtunen und Tadschiken mit etwa fünf Millionen Menschen die drittgrößte Gruppe des Landes. Eine weitere schiitische Gruppe, die Ismailiya, in der eine andere Linie der Nachkommenschaft Alis verehrt wird, ist in mehrere Untergruppen zersplittert. Die bekannteste unter ihnen sind die Nizariten, die mit ihrem religiösen Oberhaupt, dem Aga Khan, derzeit den 49. Imam zählen. Sie leben vor allem in Indien, Pakistan und Ostafrika.

Mächtige Rechtsgelehrte

Die Frage nach dem rechtmäßigen Nachfolger des Propheten ist bei den Sunniten stark in den Hintergrund getreten. Das Kalifenamt wurde nach dem Tod Alis umgehend zu einem erblichen Titel. Seine Träger haben es selten geschafft, den hohen Ansprüchen ihres Amtes zu genügen. Nur die ersten vier Kalifen, einschließlich Ali, spielen im sunnitischen Glauben als Vorbilder und Überlieferer der Prophetentradition eine Rolle. Der letzte Kalif, der einen Großteil der sunnitischen Welt hinter sich wusste, wurde 1258 nach Christus bei der Eroberung Bagdads durch die Mongolen hingerichtet. Alle anderen, die später den Kalifentitel führten, konnten nur noch eine Minderheit der Muslime von ihrem Führungsanspruch überzeugen. Schon lange zuvor waren aber die Rechtsgelehrten zur eigentlichen religiösen Autorität des sunnitischen Islam geworden, auch wenn sie keine hierarchische Institution wie im Christentum die Kirche ausbildeten, auf kritischer Distanz zur weltlichen Macht blieben.

In der Zwölfer-Schia entwickelte sich zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert nach Christus eine Art Klerus, der wie die islamische Revolution im Iran 1979 gezeigt hat, nicht davor zurückschreckt, selbst nach der weltlichen Macht zu greifen. Legitimiert sind die Geistlichen durch die andauernde Abwesenheit des verborgenen Imams, den sie bis zu seiner Wiederkehr vertreten. Ihre stärkere Institutionalisierung verdanken sie zum einen der finanziellen Unabhängigkeit - sie erheben von den Gläubigen eine zwanzigprozentige (!) Einkommenssteuer - und der Möglichkeit, das islamische Recht auch auf Bereiche auszudehnen, die nicht in Koran oder Überlieferung behandelt werden. Während sunnitischen Geistlichen die Auslegung des Koran und der Sunna nur in sehr engen Grenzen erlaubt ist, darf ein schiitischer Geistlicher vom Rang eines Ayatollah mit auf Vernunft basierten Erwägungen über den göttlichen Willen spekulieren.

Alawiten und Drusen

Berühmtestes Beispiel ist die angeblich von dem iranischen Großayatollah Mirza Schirazi stammende Erklärung aus dem Jahr 1891, Tabakgenuss sei unislamisch. Er protestierte damit gegen der Tabakmonopol, das der Schah einem britischen Händler verliehen hatte. Der Tabakhandel brach zusammen, und der Schah musste die Konzession zurücknehmen. Kurz darauf wurde das Rauchen wieder als unbedenklich eingestuft.

Um die Zahl der Personen einzuschränken, die sich dieser religiösen Autorität bedienen dürfen, war eine Hierarchie unter den Geistlichen notwendig. Eine höchste Instanz mit dem Titel Mardscha-e Taqlid ("Quelle der Nachahmung") steht theoretisch an der Spitze des schiitischen Klerus. Wem dieser Rang zusteht, wird von den Anhängern verschiedener Großayatollahs aber unterschiedlich beantwortet. Formale Kriterien dafür gibt es nicht.

Bei einigen Gruppen, die aus der Schia entstanden sind, wird in Frage gestellt, ob sie überhaupt noch zum Islam gerechnet werden können. Das sind zum Beispiel die Drusen, die einen ihrer Imame als Inkarnation Gottes verehren. Die Alawiten Syriens, denen Präsident Baschar Al-Assad angehört, verehren Ali, den Vetter des Propheten, als Gott. Trotzdem lässt sich Syriens Präsident, wie schon sein Vater Hafez, immer demonstrativ beim Gebet in der Moschee filmen, um eine Diskussion über seine Zugehörigkeit zum Islam im Keim zu ersticken. Im Lauf des Bürgerkriegs in Syrien wurde von Seiten sunnitischer Fanatiker aber immer wieder zum Kampf gegen die "ungläubigen" Alawiten aufgerufen. Auch das Bündnis des Assad-Clans mit dem Iran gründet eher auf pragmatischen Gesichtspunkten als auf religiöser Verbundenheit. Der Iran braucht Syrien als Brücke zur Hisbollah im Libanon, einer quasi-staatlichen, zwölfer-schiitischen Organisation mit eigener Armee und Infrastruktur. Dass Eingreifen von Hisbollah-Kämpfern in den syrischen Bürgerkrieg hat aber wesentlich dazu beigetragen, den Konflikt weiter zu konfessionalisieren.

Gegenseitige Anerkennung

Immerhin: Zwölfer-Schiiten und Sunniten erkennen einander weitgehend als Muslime an. Zuletzt bekräftigt vor zehn Jahren in der so genannten Botschaft aus Amman, die sowohl der Scheich der Azhar-Universität, Muhammad Sayyid Tantawi, als auch das religiöse Oberhaupt des Iran, Ali Chamenei, und rund 200 islamische Gelehrte aus 50 Ländern unterzeichneten. Das Dokument war auf Vorschlag des jordanischen Königs Abdullah II. in der jordanischen Hauptstadt entstanden.

Die Toleranzerklärung gilt aber nicht für fundamentalistische Strömungen des sunnitischen Islam. Ihre Anhänger neigen dazu, alle Muslime, die sich ihnen nicht anschließen, für ungläubig zu erklären und den heiligen Krieg gegen sie auszurufen. Sie fordern eine Rückbesinnung auf die Frühzeit des Islam und lehnen alle Traditionen ab, die sich ihrer Ansicht nach nicht mit Koran und Sunna begründen lassen. Schiitische Traditionen wie die Verehrung der Imame an den Grabmoscheen sind in ihren Augen nichts als Götzendienst.

Zu diesen radikalen Strömungen gehört nicht zuletzt die so genannte Wahabiya, die Staatsdoktrin Saudi-Arabiens. Die saudische Herrschaft über große Teile der arabischen Halbinsel seit dem 18. Jahrhundert bedeutete eine bis dahin nie dagewesene Verfolgung von Schiiten und die Zerstörung von Pilgerstätten. Inzwischen hat sich die Aggressivität des saudischen Staates gegenüber den Schiiten im eigenen Herrschaftsgebiet gelegt. An ihre Stelle sind salafistische Gruppen wie Al-Kaida oder ISIS getreten, deren Opfer häufig genug auch sunnitische Muslime werden. Als Salafisten bezeichnet man die Vertreter der Ideologie, die den Frühislam unter den ersten Kalifen wiederherstellen wollen - notfalls mit Gewalt. Dass sie nun in unmittelbarer Nähe zu den höchsten schiitischen Heiligtümern ihr Unwesen treiben, lässt wenig Hoffnung auf ein baldiges Ende der Spannungen zwischen den islamischen Konfessionen im Irak.

Christoph Meyer

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