Giuseppe Verdi wurde im Oktober vor 200 Jahren im Herzogtum Parma geboren. Einige Jahrzehnte später stand fest: Hier ist einer der größten, wenn nicht der wichtigste Opernkomponist des 19. Jahrhunderts. Und da die Menschen froh sind, wenn sie ein Etikett gefunden haben und eine Schublade schließen können, ließ die Kritik nicht lange auf sich warten, als er 1874 seine "Messa da Requiem" vorstellte. Das sei doch nur "Oper im Kirchengewande". Aus heutiger Sicht möchte man entgegnen: Und wenn schon! Entscheidend ist doch, ob uns diese Trauermusik berührt. Ob sie das Sterben und den Tod nahe bringt, mit seiner Angst und allem Verzweifeln. Ob sie das Licht der Hoffnung birgt, den Ausblick auf Erlösung. Öffnet sich eine Tür jenseits dessen, was uns im Moment der Trauer als unausweichliches Letztes erscheint und doch nicht ist?
Die Antwort lautet ja, uneingeschränkt ja. Darüber ist sich das Publikum von Beginn an einig gewesen - auch eingedenk der Tatsache, dass das Werk zwar im Kontext einer Messe uraufgeführt wurde, danach aber vor allem auf weltlichen Konzertbühnen ein Zuhause gefunden hat. Verdis Requiem fordert bis heute eine immer neue Auseinandersetzung, eine persönliche Auslegung ein. So ist es kein Wunder, eher ein Muss, dass es aus Anlass von Verdis 200. Geburtstag von einer erlesenen Schar Opernmusikerinnen und -musiker neu aufgenommen worden ist: mit Daniel Barenboim als Dirigenten, dem Tenor Jonas Kaufmann, Anja Harteros als Sopranistin, Elina Garanca, Mezzosopran, und dem Bassisten René Pape. Dazu Chor und Orchester der Mailänder Scala, wo das Ganze auch live auf die Festplatte gebannt wurde.
Die Musik erhebt sich vorsichtig aus dem Schweigen, das der Tod uns einflößt, und auch im Weiteren dominieren die stillen Farben. Dann bricht aber das Übermächtige, Absolute herein, nur kurz, aber so gewaltig, dass man sich ducken möchte. Verdi liebte dieses Aufbrausen. Barenboim und seinem Ensemble gebührt das Verdienst, keine plakative Effekt-Malerei damit zu betreiben, sondern die großen dynamischen Unterschiede mit feinsten Nuancen zu versehen. Dies gilt insbesondere für die wunderbare Abstimmung der Solistinnen und Solisten untereinander und mit dem Chor, exemplarisch im "Quid sum miser" und im "Rex tremendae majestatis".
Angesichts der zu Herzen gehenden Darbietungen kann man Verdi nur zutiefst dankbar sein, dass er neben dem Tenor auch den weiblichen Stimmen einen so hohen Stellenwert eingeräumt hat. Im abschließenden "Libera me", das Verdi in Abweichung von der liturgischen Konvention angefügt hatte, fleht Anja Harteros mit geradezu verstörender Dringlichkeit um Erlösung. In diesem Augenblick scheint sie ganz nah zu sein.
Verdi - Requiem. Chor und Orchester der Mailänder Scala unter der Leitung von Daniel Barenboim. Decca 478 5245
Ralf Neite