Das Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften in Deutschland ist ein höchst verwickeltes Beziehungsgeflecht mit Verästelungen in Bereiche hinein, die weit über die Problematik des staatlichen Einzugs von Kirchensteuern hinausgehen. Manche Privilegien sind der Öffentlichkeit kaum bewusst; so etwa brauchen die Kirchen keine Grundsteuer zu entrichten und sind von Gerichtsgebühren befreit. Dieses Staat-Kirchen-Verhältnis sei auf Kooperation angelegt und zum Nutzen beider Seiten, erklären Verteidiger des Systems, das über Jahrhunderte gewachsen ist. Es bekam einen ordentlichen Schub durch die Säkularisation, die Enteignung geistlicher Fürstentümer 1803/06, und wurde in den Kirchenartikeln der Weimarer Verfassung von 1919 fundamentiert, die dann kurzerhand in das Bonner Grundgesetz 1949 übernommen wurden. Festgelegt wurde damit ein Modell, das in der Mitte zwischen einem staatskirchlichen System wie in England und einem laizistischen wie in Frankreich liegt.
Wie dieses weltweit nahezu einzigartige Modell geworden ist, was es heute ist, kann man jetzt in diesem umfänglichen Sammelband nachvollziehen. Die Aktualität des Themas zeige sich in Diskussionen über Kruzifixe in Schulen und Kopftuchverbote, über Gottesbezüge in Verfassungen säkularer Staaten und der Europäischen Union, stellen die Herausgeber in der Einleitung fest. Auch der Bedeutungsverlust traditioneller Kirchen, das Vordringen anderer Religionsgemeinschaften, wie vor allem des Islam, oder die wachsende Zahl Konfessionsloser haben bereits merkliche, oft auch nur seismographisch bemerkbare Auswirkungen auf das System der Staat-Kirchen-Beziehungen. Gegenüber der Anzahl historischer Beiträge, auch der biografischen Studien über eindrucksvolle Vertreter des Staatskirchenrechts kommen allerdings die angesagten Aufsätze zu Problemen der Gegenwart zu kurz.
Die Frage etwa, wie sie hier aufgegriffen wird, ob das Staatskirchenrecht zu einem Religionsverfassungsrecht umgeformt werden müsste, ist nicht nur ein Streit um Begriffe. Die Kirchenartikel des Grundgesetzes sind zugeschnitten auf die christlichen Kirchen und ihre Verfassung. Auf den ganz anders strukturierten Islam sind sie kaum anwendbar, der Staat hat derzeit kein adäquates Gegenüber wie die christlichen Kirchenleitungen, mit denen Inhalte des Religionsunterrichts, Fragen der Militärseelsorge oder Bestimmungen für die theologischen Fakultäten an den staatlichen Universitäten verbindlich verhandelt werden könnten. Die von der Bundesregierung installierte Islamkonferenz birgt in sich das Problem, dass der Staat sich selbst einen Verhandlungspartner für die Regelung der Beziehungen zu den Muslimen geschaffen hat, der tatsächlich nicht von allen Religionsangehörigen als legitimer Vertreter akzeptiert wird. Der Beitrag zum Islam im Sammelband behandelt aber nicht dieses Verfassungsproblem, sondern die Frage, ob staatstheoretische Ansichten von Muslimen fundamentalistisch sein müssen, und das dazu dargelegte Nein ist nicht überraschend.
Unter dem Gesichtspunkt, dass sich seit längerem etwa ein Drittel der deutschen Bevölkerung keiner Religionsgemeinschaft zugehörig fühlt, werden staatliche Leistungen an die Kirchen zunehmend stärker diskutiert; wer konfessionslos ist, möchte oftmals nicht durch seine Steuern die Kirchen unterstützen. Bereits in der Weimarer Verfassung war bestimmt, dass die so genannten Dotationen - das sind laufende finanzielle Entschädigungen für die Säkularisation kirchlichen Grundbesitzes 1803/06 - abzulösen seien; mit der Übernahme in das Grundgesetz ist dies ein Verfassungsauftrag, der seit nahezu hundert Jahren unerfüllt ist. Zwar hat auch in den christlichen Kirchen eine Diskussion darüber begonnen, wie diese Subventionierung beendet werden könnte; der einschlägige Aufsatz in dem Sammelband bietet jedoch dazu keine Lösung an. Mehr Ansätze für die Fortentwicklung des Religionsverfassungsrechts in Deutschland wären zudem wünschenswert gewesen.
Thomas Holzner / Hannes Ladyga (Hg.): Entwicklungstendenzen des Staatskirchen- und Religionsverfassungsrechts. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2013, 640 Seiten, Euro 78,-.
Hajo Goertz