Erinnerungsplatz in der Seele

Warum Tod und Trauer zu einem Wegweiser für das Leben werden können
Trauerrituale dienen der positiven Verarbeitung. Foto: dpa
Trauerrituale dienen der positiven Verarbeitung. Foto: dpa
Trauer gehört wie Freude zu den menschlichen Grundgefühlen. Sie verläuft ganz individuell - trotzdem kann die Psychologie verschiedene Phasen im Trauerprozess benennen, erklärt Michael Utsch.

Erhält man unverhofft eine Einladung oder ein Geschenk, huscht meist ein freudiges Lächeln über das Gesicht. Wenn aber etwas Wichtiges verloren gegangen ist, gesellt sich zum Ärger darüber schnell die Trauer. Niemand mag gerne traurig sein. Die niedergedrückte Stimmung wirkt sich in Gefühlen frostiger Kälte und trüber, farbloser Wirklichkeitswahrnehmung aus - alles sieht dunkel und schwarz aus. Und zur Trauer gehört auch der soziale Rückzug - die wie eingefrorene Seele verträgt keine Nähe. Deshalb ist das Gefühl der Trauer äußerst unangenehm und wird möglichst gemieden.

Wie die Freude gehört die Traurigkeit zu den menschlichen Grundgefühlen, die in allen Kulturen anzutreffen ist. Freude stellt sich ein, wenn eine positive Bindung zu einem Gegenstand oder einer Person besteht. Der Gefühlsimpuls zielt auf Beibehaltung des angenehmen Zustandes: "So ein Tag, so wunderschön wie heute ...." Trauer hingegen zeigt einen Verlust an und geht mit dem Wunsch nach Wiederherstellung der verlorenen Bindung einher: "Komm' wieder zurück!" Der englische Begriff "bereavement" weist auf den Bedeutungshorizont des "Beraubtwerdens" einer Person oder Sache hin. Trauern und die Trauerarbeit zielen darauf ab, dass wir das Objekt, das uns verloren gegangen ist, wieder näher an uns heranholen möchten.

Der Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud unterschied in einer wichtigen Arbeit, die während des Ersten Weltkrieges 1917 erschien, die Trauer von der Melancholie. Freud zufolge ist die Melancholie dadurch gekennzeichnet, dass dabei im Gegensatz zur Trauer das Selbstgefühl beeinträchtigt wird. Trauern definiert er als "die Reaktionen auf den Verlust einer geliebten Person oder einer an ihre Stelle gerückten Abstraktion wie Vaterland, Freiheit, ein Ideal". Analog zur Melancholie sei sie gekennzeichnet, "durch eine tief schmerzliche Verstimmung, eine Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, durch den Verlust der Liebesfähigkeit, durch die Hemmung jeder Leistung". Nach Freuds Überzeugung muss ein Trauernder die seelische Energie von einem verloren gegangenen Menschen abziehen, wogegen er sich zunächst einmal sträubt. Das geliebte Objekt wird in der Vorstellung festgehalten und erst allmählich freigegeben. Diesen konfliktreichen Vorgang bezeichnete Freud als Trauerarbeit.

Teil des Lebens

Auch wo die Triebtheorie Sigmund Freuds nicht übernommen wurde, hat sich seither die Einsicht durchgesetzt, dass die Trauer ein notwendiger und sinnvoller psychischer Reaktionsprozess ist. Das Durchleben und Durchleiden verschiedener Phasen jeweils unterschiedlicher Empfindungen wird heute als unabdingbar für eine gelingende Trauerbewältigung angesehen. Wenn Trauerarbeit vermieden wird, können sich leicht krankhafte Störungen einstellen. Grundsätzlich wird Trauer damit als ein normaler Bestandteil des Lebens und nicht als Krankheit angesehen. Als die weltweit gültige und im Mai dieses Jahres aktualisierte Fassung des Diagnoseschlüssels psychischer Erkrankungen (DSM 5) erschien, wurde zu Recht vielfache Kritik laut. In diesem neuen Manual haben amerikanische Psychiater die "gesunde" Trauerzeit auf vierzehn Tage limitiert. Stimmungsstörungen, die länger anhalten, sollen demnach schon als depressive Erkrankung behandelt werden.

Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde (DGPPN) nahm kritisch dazu Stellung und wies darauf hin, dass ein Trauerprozess nach Verlusterlebnissen zum gesunden Anpassungs- und Bewältigungsrepertoire des Menschen gehöre. Ausgeprägte Trauer nach dem Tod eines nahestehenden Menschen gingen dabei oft mit denselben Symptomen, Beschwerden und Einschränkungen einher wie bei einer depressiven Erkrankung - zum Beispiel Niedergeschlagenheit, Antriebsstörung, Interesseverlust, Schlafstörungen, Appetitverlust oder Freudlosigkeit. Bei mehr als 80 Prozent der Trauernden lösten sich diese negativen Empfindungen jedoch nach wenigen Wochen oder Monaten vollständig wieder auf - auch ohne pharmakologische oder psychotherapeutische Hilfe. Nach Meinung der deutschen Fachgesellschaft signalisiert eine Traueraktion also keine seelische Erkrankung. Das neue Manual ignoriere das in der Regel natürliche Nachlassen der Trauerempfindung und die meistens erhaltene Fähigkeit zur Selbstregulation. Die deutschen Psychiater befürchten, dass nun bei einer zunehmenden Zahl trauernder Menschen eine krankheitsrelevante psychische Störung diagnostiziert werde.

Vier Phasen

Folgt man dem neuen Diagnoseschlüssel, wird das solidarisch finanzierte Gesundheitssystem noch mehr belastet. Folgt man jedoch neueren Studien zur Trauerbewältigung, kann neben einer angemessen dosierten professionellen psychiatrisch-psychotherapeutischen Hilfe zum Beispiel besonders die soziale Einbindung in eine Kirchengemeinde eine wichtige Unterstützung sein und Hilfsfunktionen bei der Verarbeitung des Verlusts übernehmen.

Der Trauerprozess verläuft - abhängig von den individuellen Voraussetzungen, der Situation und dem Umfeld - sehr unterschiedlich. In seiner klassischen Zusammenfassung unterscheidet der systematische Theologe Yorick Spiegel vier Trauerphasen: zunächst den Schock, eine Phase von wenigen Stunden bis zu zwei Tagen. Angehörige erscheinen in dieser Zeit wie gelähmt und können die Realität des Verlustes nicht aufnehmen. Es folgt die Kontrolle: In dieser Zeitspanne, die in der Regel bis zum Beginn der Bestattung anhält, erfahren sich die Angehörigen immer noch als passiv und emotional distanziert. Oft verstricken sie sich in ziellose Aktivitäten, um ihrem Gefühlschaos auszuweichen. In der Regression taucht die trauernde Person in die Gefühle des Schmerzes und der Trauer ein, die bisherige psychische Organisation zerbricht. Ein totaler Rückzug, Nahrungs- verweigerung oder erhöhter Appetit kommen vor, Gefühl von Angst und Schuld können auftauchen. Und zuletzt die Anpassung: In der Phase der Adaption tritt der/die Verstorbene langsam in den Hintergrund, und der/die Angehörige ist jetzt wieder frei für ein Leben ohne die vertraute Person.

Für die Begleitung eines Trauernden ist es hilfreich, diese Phasen zu kennen, um die oft überraschenden Reaktionen und Erlebnisse besser verstehen und einordnen zu können. Kerstin Lammer, Theologieprofessorin für Seelsorge und Pastoralpsychologie in Freiburg, hat die Aufgabe der Trauerbegleitung in einer Kurzform gebracht:

T - Tod begreifen helfen (Realisation)

R - Reaktionen Raum geben (Initiation)

A - Anerkennung des Verlusts äußern (Validation)

U - Uebergänge unterstützen (Progression)

E - Erinnern und Erzählen anregen (Rekonstruktion)

R - Ressourcen und Risiken einschätzen (Evaluation, Prävention).

Die biblischen Traditionen der Trauerverarbeitung bieten Seelsorgern einen reichhaltigen Erfahrungsschatz, der sich bewährt hat und zeitlos gültig ist. In den Psalmen und Klageliedern können verschiedene Aspekte der Trauerbewältigung von negativen, selbstrechtfertigenden Gefühlen über Klage und Zweifel bis hin zu Hoffnung und Vertrauen gefunden werden. Neutestamentliche Geschichten können als individuelle Trauerwege entdeckt und für die eigene Bewältigung fruchtbar gemacht werden.

Rituale erleichtern den Verlust

Rituale scheinen Menschen einen Verlust leichter verwinden zu lassen. Einer neuen Studie zufolge verstärken sie bei Trauernden das Gefühl von Kontrolle. Dadurch können sie besser mit ihrem Schmerz umgehen, gleichgültig, ob sie einen geliebten Menschen oder nur Geld verloren haben.

Rituale bewegen die Menschen nicht nur zur Advents- und Weihnachtszeit, wenn das Plätzchenbacken und das Weihnachtsbaumschmücken vor der Tür stehen. Ritualisierte Handlungen scheinen für Menschen besonders wichtig, wenn sie mit traurigen Ereignissen zurechtkommen müssen. In vielen Kulturen trauern die Menschen laut und öffentlich um ihre Toten, veranstalten aufwändige Zeremonien und pflegen traditionelle Riten. Auch wenn sich diese Rituale je nach Region und Religion unterscheiden, so erfüllen sie doch immer einen bestimmten Zweck: Den Menschen soll es leichter fallen, einen Verlust zu verarbeiten.

Diese These findet aus psychologischer Sicht empirische Unterstützung. Wenn Trauernde Rituale pflegen, egal ob öffentlich oder privat, religiös oder weltlich, dann bewältigen sie ihren Kummer schneller.

In einer neueren Studie wurden rund 240 Menschen gebeten, über eine schmerzliche Erfahrung - den Tod eines geliebten Menschen oder das Ende einer wichtigen Beziehung - zu schreiben. Die Hälfte der Teilnehmer sollten zudem über ein Ritual schreiben, das ihnen damals geholfen hat. In der Studie nennen die Wissenschaftler auch einige Beispiele für solche Verlustrituale der Versuchsteilnehmer: "Ich kehrte jeden Monat am Tag unserer Trennung an den Ort des Beziehungsendes zurück, um den Verlust zu verarbeiten und alles zu überdenken." Oder: "Ich habe alle Fotos gesammelt, die wir in der Zeit unserer Beziehung aufgenommen haben. Ich habe sie dann in kleine Stücke gerissen (auch die, die ich wirklich mochte) und dann habe ich sie in dem Park verbrannt, in dem wir uns zum ersten Mal geküsst haben." Ein weiteres: "Ich wasche jede Woche sein Auto, so wie er es bis zu seinem Tod gemacht hat." Und "Ich habe ihr Wohnhaus in den letzten fünfzehn Jahren nicht mehr besucht. Und in diesen fünfzehn Jahren bin ich jeden ersten Samstag des Monats zum Friseur gegangen, so wie wir es immer zusammen gemacht haben."

Tod als Wegweiser

Diejenigen, die von solchen Verarbeitungsriten berichten konnten, erklärten rückblickend, weniger Kontrollverlust und weniger Leid erfahren zu haben als Menschen ohne Rituale. Die christliche Trauerkultur hilft mit ihren bewährten Traditionen, vor der letzten Grenze des Todes nicht zu flüchten, sondern ihn mit in das Leben einzubeziehen.

Trauerarbeit ist nötig, wenn eine für die seelische Stabilität wichtige Bezugsperson verloren gegangen ist. Wer sich nicht bindet, muss/kann nicht Abschied nehmen. Aber mit der Stärke der emotionalen Bindung wachsen die Gefahren der Leere, wenn die Bindung bricht. Trauerarbeit ist aber Teil der Bindung, wenn klar wird, dass keine zwischenmenschliche Beziehung unbegrenzt andauern kann. Die Größe der Trauer besteht darin, das Verlassensein zu verschmerzen und der verloren gegangenen Person oder Sache einen bleibenden Erinnerungsplatz in der Seele zu schaffen. Dann ist zwar die reale, lebendige Beziehung beendet, aber ihr inneres Seelenbild ist bleibend und endgültig.

Der Tod kann zu einem Wegweiser und zur Orientierung des Lebens werden, wenn wir ihn nicht verdrängen, sondern ihm einen Stellenwert im Leben geben. Welche Prioritäten sind wirklich wichtig? Was bewegt und berührt mein Herz? Welche Personen und Erinnerungen haben einen bleibenden Wert? Und welche Seelenbilder begleiten mein Leben als innere Gefährten?

Zum Weiterlesen:

Eckhard Frick: Psychosomatische Anthropologie, Kapitel 9: Der trauernde Mensch. Stuttgart 2009.

Ursula Gast u.a.: Trauma und Trauer. Impulse aus christlicher Spiritualität und Neurobiologie. Stuttgart 2009.

Verena Kast: Trauern. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses. Stuttgart 2013.

Michael Klessmann: Pastoralpsychologie. Neukirchen 2009.

Christoph Morgenthaler: Seelsorge. Gütersloh 2009.

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Michael Utsch

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