Eine deutsche Ausnahme
Johannes Lepsius war, wie dieses Buch zu Recht behauptet, eine deutsche Ausnahme. Er hatte als Pfarrer im mansfeldischen Friesdorf nach orientalischem Vorbild eine Teppichfabrik gegründet, was ihm ermöglichte, auf die ersten Nachrichten über die Massaker an christlichen Minderheiten im Osmanischen Reich 1896 als Teppichhändler dorthin zu reisen und sich ein eigenes Bild zu verschaffen. Seine unmittelbare Reaktion bestand darin, ein groß geplantes und auch in seinen schließlich erheblich kleineren Dimensionen noch eindrucksvolles Hilfswerk in Gang zu setzen, zu dessen praktischen Voraussetzungen unter anderem die Verlegung der genannten Teppichfabrik von Friesdorf in die anatolische Stadt Urfa gehörte. Für diese Aktion tätiger Nächstenliebe musste die Unterstützung vieler Menschen gewonnen werden. Dem diente schon die erste große Armenien-Veröffentlichung aus seiner Feder, die Anklageschrift "Armenien und Europa" aus dem Jahr 1896. Von diesem Augenblick an wurde Johannes Lepsius ein herausragendes Beispiel für die Einheit von Wort und Tat. Das wird in diesem Sammelband, der aus einer wissenschaftlichen Konferenz im Potsdamer Johannes-Lepsius-Haus hervorgegangen ist, eindrucksvoll dokumentiert.
Als Kind seiner Zeit ist Lepsius durch das nationale Denken geprägt. Er sieht einen inneren Zusammenhang zwischen dem Erfolg der deutschen Politik, auch im Nahen Osten, und dem Erfolg der christlichen Mission, an der er ein starkes Interesse hat. Doch zugleich bricht sich bei Lepsius intensiver als bei den meisten anderen die internationale Solidarität Bahn. Die Erschütterungen durch zwei Schübe von Gewaltverbrechen gegen die Armenier in den Jahren 1896 und 1915 bewirken jeweils entscheidende Schritte in der Anerkennung humanitärer Kriterien von universaler Geltung vor den Ansprüchen nationaler Machtpolitik. Insbesondere 1915 ist das für Lepsius mit einem großen Risiko verbunden. Dadurch, dass er gegen das Verbot der Reichsregierung und ohne die Unterstützung seines Kuratoriums seinen "Bericht über die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei" auf eigene Faust in zwanzigtausend Exemplaren verbreitet, wird er in Deutschland zur Persona non grata, weicht - auch aus gesundheitlichen Gründen - nach Holland ins Exil aus und ist fortan, da ohne regelmäßige Einkünfte, auf die Unterstützung von Exilarmeniern angewiesen.
Sehr erhellend sind die Beiträge in diesem Buch, die sich auf die intellektuellen Stellungnahmen zu den Ereignissen des Ersten Weltkriegs und speziell zum Armenienkonflikt beziehen und Lepsius dazu in Beziehung setzen. Sein Konflikt mit Friedrich Naumann ist dafür ebenso interessant wie der Vergleich seiner Armenien-Stellungnahmen mit denen von Armin Wegner, Ernst Jäckh und Henry Morgenthau. Die Vergleiche mit diesen Autoren führen dazu, dass der Respekt vor der Haltung von Lepsius nicht schwächer wird - ganz im Gegenteil.
Hans-Lukas Kieser verortet Johannes Lepsius in einer "protestantischen Internationale" seiner Zeit. Zu deren Kennzeichen gehört die Hoffnung darauf, dass das Reich Gottes sich irdisch und politisch Bahn bräche. Beeindruckend ist die theologische Intensität, mit der Lepsius sie entwickelt und an ihr festhält. Sie zeigt sich insbesondere in der Weigerung, einer in seiner Zeit verbreiteten Haltung zu folgen, die einen Dualismus zwischen der Eigengesetzlichkeit des Politischen und der deshalb politisch unbrauchbaren Bergpredigtethik konstatierte. Lepsius suchte nach Möglichkeiten der Verbindung; worum es dabei ging, veranschaulicht Manfred Aschke durch einen aus der Staatsrechtslehre entlehnten Begriff, nämlich den Begriff der "praktischen Konkordanz".
Für mich bündelt sich nach der Lektüre dieses Buchs die Leistung von Johannes Lepsius in der eigentümlichen Rolle, die er 1921 im Prozess gegen Solomon Thelirjan spielte, der in Berlin ein Attentat auf einen der Hauptakteure des Armenien-Genozids, nämlich Talaat Pascha, verübt hatte. Lepsius' eindrucksvolle Schilderung des Armenien-Genozids trug dazu bei, dass das Gericht den Angeklagten wegen zeitweiliger Unzurechnungsfähigkeit freisprach. Er war, so legte dieses Urteil nahe, von dem Geschehen so erschüttert gewesen, dass er die Kontrolle über sich selbst verloren hatte. So problematisch das Urteil war, so folgenreich war es doch, wie man von Rolf Hosfeld und Manfred Aschke erfahren kann. Zu den Teilnehmern an dieser Gerichtsverhandlung gehörte der junge Robert Kempner, der in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen als stellvertretender Chefankläger tätig werden sollte; es zieht sich eine Spur von der Gerichtsverhandlung im Juli 1921 zu den Nürnberger Prozessen nach dem Zweiten Weltkrieg. Zu denen aber, die sich später ausdrücklich auf diesen Prozess beriefen, gehört der polnische Jurist jüdischer Herkunft Raphael Lemkin, der den Begriff des Genozids geprägt und die Konvention der Vereinten Nationen zur Verhütung und Bestrafung des Genozids von 1948 vorbereitet hat. Dieses Buch leistet einen unschätzbaren Beitrag dazu, dass Johannes Lepsius besser verstanden werden kann. Es historisiert diesen bedeutenden Pfarrer und Theologen, der sein Lebenswerk zum großen Teil ohne jede Unterstützung der offiziellen Kirche vollbringen musste. Eindrucksvoll ist, dass Nachfahren von Johannes Lepsius wie der Soziologe Rainer M. Lepsius und der Jurist Manfred Aschke dazu auf ihre Weise beitragen. Gerade weil dieses Buch keine Heldenverehrung, sondern historische Prüfung betreibt, ist das Ergebnis umso überzeugender: Ja, Johannes Lepsius war eine deutsche Ausnahme.
Rolf Hosfeld (Hg.): Johannes Lepsius - Eine deutsche Ausnahme. Wallstein Verlag, Göttingen 2013, 281 Seiten, Euro 29,90.
Wolfgang Huber