Tonbandgerät
"Es ist mein Karma, eine gestaltlose, kosmische Energie, die mich voran treibt", sagt Liao Yiwu, einer der bekanntesten Schriftsteller Chinas. Yiwu, der den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2012 bekommen hat, hat die Stimmen entrechteter Chinesen mit ihren Lebensgeschichten konserviert. Er sei das Tonbandgerät seiner Generation. Vier Lehrmeister gab es in seinem Leben: Hunger, Schande, Obdachlosigkeit und Gefängnis.
Aufgewachsen in der großen Hungersnot in Maos China in den Fünfzigerjahren, schildert er in der ersten Sequenz des Hörspiels seine Kindheit. Erzählt von dem Knaben, der erst als Fünfjähriger laufen lernte, der sogar zu schwach war, um zu weinen. Die Schande trifft den Jungen, als seine Akademikerfamilie zu den Schmarotzern der chinesischen Gesellschaft gezählt wird. Der Abstieg, die Demütigungen, sein zäher Wille und sein Zwang zum Schreiben lassen ihn zum Journalisten und Dichter reifen. Danach hört man die Geschichte des entwurzelten Alten, in denen der dritte Lehrmeister, die Obdachlosigkeit, zu Wort kommt. Der letzte ist das Gefängnis, in dem Yiwu einsaß: "Ich danke ihm dafür, dass ich von morgens bis abends mit so vielen zum Tode Verurteilten, Reaktionären, Menschenhändlern, Bauernkaisern (und) Räuberbandenchefs (...) zusammen sein durfte."
Diese beeindruckende Hörspiel-Collage ist ein gelungener Mix unterschiedlicher deutscher Stimmen, der sanft melodischen Stimme des chinesischen Erzählers - und den für europäische Ohren ungewohnten Sequenzen eines chinesischen Sprechgesangs, untermalt von minimalistischen Musikelementen.
Liao Yiwu: Vier Lehrmeister. Hörbuch Hamburg 2012.
Angelika Hornig