"Dem Heute bin ich gewachsen"

Vor 70 Jahren wurde die Dichterin Gertrud Kolmar in Auschwitz ermordet
Gertrud Kolmar. Foto: akg-images
Gertrud Kolmar. Foto: akg-images
Gertrud Kolmar zählt zu den bedeutendsten deutsch-jüdischen Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts. Dirk Klose erinnert an Leben und Werk - und an ihren Tod im KZ vor siebzig Jahren.

In den ohnehin dunklen Jahren in Deutschland markiert die "Fabrikaktion" vom Februar 1943 ein besonders düsteres Kapitel. Die noch in Berlin lebenden, größtenteils zur Zwangsarbeit verpflichteten Jüdinnen und Juden waren in einer Blitzaktion in ihren Betrieben verhaftet und in die Vernichtungslager im Osten deportiert worden. Kaum eines der Opfer hat überlebt.

Unter ihnen war auch die 48 Jahre alte Dichterin Gertrud Kolmar. Sie war am 27. Februar aus einem Betrieb in Charlottenburg heraus verhaftet und am 2. März nach Auschwitz verschleppt worden. Von dort meldete die SS an das Wirtschaftsverwaltungshauptamt am 7. März den "Eingang" von 690 Schutzhäftlingen; "Sonderbehandelt wurden 30 Männer und 417 Frauen und Kinder." 1951 wurde vom Amtsgericht Charlottenburg der 2. März 1943 als offizielles Todesdatum festgelegt.

Gertrud Kolmar zählt heute neben Nelly Sachs, Rose Ausländer und Else Lasker-Schüler zu den bedeutendsten deutsch-jüdischen Dichterinnen im 20. Jahrhundert. Sie hat mehrere große Gedichtszyklen geschrieben, einige Erzählungen, von denen "Die jüdische Mutter" am bekanntesten geworden ist, Essays, besonders zu Robespierre, sowie - unveröffentlichte - dramatische Entwürfe. Sie wurde ab 1930 mehr und mehr in renommierten Literaturzeitschriften abgedruckt. Kritiker würdigten ihre Sprachkraft und hoben ihre Fähigkeit hervor, persönlichen Gefühlen wie Sehnsucht, Liebe, Einsamkeit und Ausgestoßensein in individueller Prägnanz und gerade deswegen allgemeingültig Ausdruck zu geben. Erst unter dem Druck des NS-Regimes widmete sie sich in ihrem Werk intensiver ihrer Existenz als Jüdin und damit ihrer Diskriminierung in Deutschland. Leicht eingängige Verse waren ihre Sache allerdings nicht.

Die Geschichte ihrer Familie spiegelt den Aufstieg des deutschen Judentums seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Mit bürgerlichem Namen hieß sie Chodziesner, stammte aus dem kleinen Ort Chodziez? (Kolmar) in der zu Preußen gehörenden Provinz Posen. Der 1861 geborene Vater hatte sich aus kleinen Verhältnissen zu einem in Berlin begehrten Strafverteidiger emporgearbeitet. Seine Einkünfte erlaubten ihm 1899 den Kauf einer Villa im noblen Westend, und 1923 eines Hauses in der Villenkolonie Finkenkrug westlich von Spandau.

Gertruds Mutter hatte drei Schwestern. Ihr Neffe, also Gertruds Cousin, war Walter Benjamin, der sich 1940 auf der Flucht vor den Nazis im spanischen Port Bou das Leben nahm. Benjamins Bruder Georg wurde 1942 im KZ Mauthausen ermordet. Dessen Frau Hilde Benjamin war nach 1949 Justizministerin der DDR.

Zur Abtreibung gezwungen

Gertrud Kolmar (so nannte sie sich 1917 in ihrem ersten Gedichtband) wurde am 10. Dezember 1894 geboren. Sie war die älteste von vier Geschwistern, die drei Jüngeren flohen bis zum Kriegsausbruch 1939. Sie aber blieb in Deutschland.

Gertrud Kolmars Leben begann unspektakulär. Getreu den damaligen Erziehungsprinzipien durchlief sie Mädchen- und Hauswirtschaftsschule und ein Sprachlehrerinnenseminar. Doch im Jahr 1915 wurde sie, achtzehnjährig, schwanger, und dies in einer Zeit, als ein uneheliches Kind in bürgerlich Kreisen als Skandal galt und die Mutter zur gesellschaftlichen Außenseiterin machte. Gertruds Vater erzwang einen Schwangerschaftsabbruch. Und das führte bei der jungen Frau zu einer Lebenskrise, die bis zu einem Selbsttötungsversuch reichte. Nur langsam fand Gertrud Kolmar aus der tiefen Krise heraus - mag sein, dass sie dadurch ihre große Sensibilität für menschliche Nöte steigerte. Schon in dieser Zeit, im Ersten Weltkrieg, trat sie mit Gedichten an die Öffentlichkeit.

Ihr weiteres Leben verlief so ruhig, dass der Schluss auf eine bleibende psychische Deprivation naheliegt; all ihre Energie floss in ihr literarisches Werk, hier spürt man ihre innere Glut - auch an der unterdrückten und zu höchster Ausdrucksintensität gesteigerten Sinnlichkeit.

In den Zwanzigerjahren lebte Kolmar mehrere Jahre als Erzieherin in Hamburg, später in Frankreich. Ab Ende 1928 war sie wieder in Finkenkrug und im wahrsten Sinne des Wortes "Mädchen für alles" bei ihren Eltern, die immer noch ihrem aufwändigen Lebensstil frönten.

Mit der Rückkehr ins Elternhaus setzte ein wahrer Schaffensrausch ein, der in wenigen Jahren mehrere sprachgewaltige Gedichtszyklen zeitigte: "Preußische Wappen", "Weibliches Bildnis", "Tierträume" und "Das Wort der Stummen". 1937 kam, schon unter den Pressionen des NS-Regimes, in einem kleinen jüdischen Verlag noch der Zyklus "Welten" heraus. Jeder Zyklus umfasst zwischen vierzig und sechzig Gedichte, die virtuos, teils in strenger Versform, teils in freiem Reim und wenig metrisch komponiert sind.

Der Zyklus "Preußische Wappen" wurde 1934 in dem kleinen Verlag "Die Rabenpresse" veröffentlicht. Angeregt zu ihm wurde Gertrud Kolmar durch Reklamebildchen, die eine Kaffeefirma ihren Produkten beilegte. Geographisch umfasst der Zyklus alle preußischen Provinzen - von Ost- und Westpreußen über Brandenburg und Schlesien bis nach Westfalen und dem Rheinland. Bis auf Berlin sind es meist kleinere Städte und Städtchen, zum Beispiel das westpreußische Schloppe, dessen Wappen eine goldene Krone mitsamt den Gestirnen zeigt:

In schwarzem Laube schwellen die Gestirne. / Erst wenn sie faulen, stürzt der Himmel ein. / Dann schmilzt der Mond vor Quittenfrucht und Birne / Und mischt dem Frühtau seinen blassen Wein. // Auf öden Feldern wachsen noch Dämonen, / Die Toten jagen, reiten nachts den Wind, / und andre zieh'n aus Sümpfen ihre Kronen, / die triefend schwer von Schleim und Schnecken sind.

Gertrud Kolmars hoffnungsvoller Aufbruch nahm mit der Nazizeit ein jähes Ende. Sie fühlte sich auf ihr Judentum zurückgeworfen und reagierte darauf im Herbst 1933 mit dem Zyklus "Das Wort der Stummen". Daraus das bittere Gedicht "Anno Domini 1933":

Er hielt an einer Straßenecke. / Bald wuchs um ihn die Menschenhecke. // Sein Bart war schwarz, sein Haar war schlicht. / Ein großes östliches Gesicht. // Er sprach und rührte mit der Hand / sein Kind, das arm und frostig stand: // "Ihr macht es krank, ihr schafft es blass; / wie Aussatz schmückt es euer Hass." // Das griff ins Wort die nackte Faust: / "Schluck selbst den Unrat, den du braust! // Du putzt dich auf als Jesus Christ / und bist ein Jud und Kommunist. // Du krumme Nase, Levi, Saul, / hier, nimm den Blutzins und halt's Maul!" // Ihn warf der Stoß, ihn brach der Hieb. / Die Leute zogen ab. Er blieb. // Gen Abend trat im Krankenhaus / der Arzt ans Bett. Es war schon aus. // Ein Galgenkreuz, ein Dornenkranz / im fernen Staub des Morgenlands. // Ein Stiefeltritt, ein Knüppelstreich / im dritten, christlich-deutschen Reich.

In den folgenden Jahren wurde Gertrud Kolmar öffentlich kaum mehr wahrgenommen. In den kleinen Zirkeln des Jüdischen Kulturbundes, in dem sich die bedrängten Künstler und Interessierte zusammenfanden, hatte sie allerdings mit ihren Lesungen großen Erfolg. Kritiken sprachen von einer "ganz ungewöhnlichen Diktion" und von einer "der stärksten und eigenwilligsten Begabungen unter den jüdischen Dichtern und Dichterinnen der Gegenwart".

Nach der Pogromnacht vom 9. November 1938 häuften sich die Repressalien. Die Familie, es waren nur noch Vater und Tochter, wurde gezwungen, das Haus in Finkenkrug zu verkaufen und in ein "Judenhaus" im Stadtteil Schöneberg zu ziehen, in dem sie zunächst eine geräumige Wohnung hatten, bis sie 1941/42 auf winzige eineinhalb Zimmer eingeengt wurden. Es ist eine Zeit bitterer Einsamkeit und Entsagung.

Der Vater wird im Herbst 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo er bald darauf stirbt. Gertrud Kolmar wird zur Zwangsarbeit verpflichtet, zuerst in einem Werk in Lichtenberg, dann in Charlottenburg. Doch sie akzeptiert diese Zeit, ja beginnt noch hebräisch zu lernen und in der neuen Sprache erste Gedichte zu schreiben. Ihrer Schwester Hilde, die in die Schweiz emigrieren konnte, schreibt sie berührende Briefe, die heute von der Kritik gleichrangig neben ihr dichterisches Werk gestellt werden: "Jede dichterische Erschaffung ist für mich eine Geburt. Die Wehen sind manchmal scheußlich. Zurzeit findet dieses Ereignis immer nachts statt. Ich gehe früh zu Bett, und wenn dann die oberen Mieter zwischen eins und drei Uhr mich wecken, habe ich schon ein paar Stunden geschlafen und die Kopfarbeit kann beginnen. Wenn ich dann das 'Kind' wieder um einige Zentimeter weiter 'gehoben' habe, ist es fünf Uhr vorbei. Morgens nach dem Anziehen wird gleich alles niedergeschrieben. Dabei bin ich sehr müde, fühle mich elend und habe wohl auch Kopfschmerzen, kurz alle Anzeichen eines 'Katers' wie nach einer nächtlichen Ausschweifung, die es ja auch ist."

Zu ihrer eigenen Überraschung empfindet sie die harte Fabrikarbeit nicht als Zwang: "Ich merke allmählich, dass ich dort ein Heimatgefühl bekomme, das ich hier nicht mehr habe. Ich weiß, dass ich morgen früh die etwas dunklen Hallen betreten werde mit dem Empfinden: 'Wieder Zuhause.' Was die jetzige Zeit verlangt, das hab' ich ganz und gar; dem Heute bin ich gewachsen."

Ihre letzten Weihnachtstage sind Tage wie alle anderen: "Nun hatte ich doch die heimliche Hoffnung gehegt, dass einer kommen werde und den heutigen Tag mit mir feiern würde. Aber es ist niemand gekommen, und jetzt kommt wohl auch keiner mehr. So will ich Dir sagen, dass ich hier in meiner Einsamkeit an Dich denke ... und mir vorstelle, wie Ihr den Nachmittag verbringen mögt. Ich bin ja dabei, wenn auch nicht körperlich, so doch mit dem Herzen. Ich halte Deine Hand in der meinen. Trude." Fünf Monate hat Gertrud Kolmar noch, bis in den Februar 1943, allein in dem Zimmerchen gelebt.

Die Ermordung Gertrud Kolmars hat sie nicht vergessen gemacht. Schon bald nach Kriegsende, nicht zuletzt durch intensive Bemühungen der Schwester Hilde Wenzel und ihres Mannes wurden schon 1947 von Peter Suhrkamp erste Gedichte veröffentlicht, in den Fünfzigerjahren dann von Hermann Kasack. Heute sind sorgfältig erarbeitete Ausgaben der Gedichte und Prosatexte sowie biographische Arbeiten über sie erhältlich, unter anderem im Göttinger Wallstein-Verlag, bei Suhrkamp und DTV.

Die drei Jahre ältere Dichterin Nelly Sachs, die mit Gertrud Kolmar bei Lesungen im Jüdischen Kulturbund zusammengekommen war und die in buchstäblich letzter Sekunde dank schwedischer Fürsprache Deutschland verlassen konnte, hatte schon 1943 in einem Gedicht "Die Hellsichtige" an Gertrud Kolmar erinnert:

Du sahst die Gedanken kreisend gehen / wie Bilder um ein Haupt. / Die Luft hast Du geglaubt / darin die Sterne auferstehn. // Und hattest nicht den Blindenstar / der altgewordnen Zeit. / Wo für uns noch der Abend war, / sahst du schon Ewigkeit.

Dirk Klose

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